Schulunterricht in Baden-Württemberg: "Es kommt auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer an"
Von Sören S. Sgries
Heidelberg. Hans-Werner Huneke ist Professor für deutsche Sprache und ihre Didaktik - und er leitet seit 2015 die Pädagogische Hochschule (PH) Heidelberg. Anfang Februar übernahm der 62-Jährige zudem den Vorsitz der Landesrektorenkonferenz der sechs Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg. Im Interview spricht er über Freiheiten der Lehrer und Pflichten des Landes.
Prof. Huneke, in Baden-Württemberg beobachten wir gerade eine Art "Schüler-Leistungs-Krise". Was sagt das über die Qualität der Lehrer aus?
Die vergleichenden Bildungsstudien zeigen, dass wir die Situation bei uns nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten. Das lässt sich aber nicht mit zwei, drei Ursachen erklären und dann beheben. Es geht um ein komplexes Gefüge. Lehrerbildung ist einer der Aspekte. Wir haben aber schon reagiert - und zwar vorab. Wir haben die Ausbildung 2011 und 2015 zusammen mit dem Kultus- und dem Wissenschaftsministerium schrittweise reformiert. Lehrerbildung wirkt aber so richtig erst nach etwa zehn Jahren.
Warum so langsam?
Das Studium dauert nun fünf Jahre, der Vorbereitungsdienst kommt dazu - dann sind wir bei sieben Jahren. Und wie in anderen Berufen auch braucht man ein paar Jahre, bis man sich "freigestrampelt" hat.
Das heißt aber auch: Die Reformen kamen zu spät.
Wir waren in Baden-Württemberg nicht die ersten, die die Lehramtsausbildung reformiert haben. Das stimmt. Aber es sind ja weitere Faktoren zu berücksichtigen. Es trifft zum Beispiel nicht alle Schulen gleichermaßen: Einige liefern erwartungswidrig, trotz sehr schwieriger Rahmenbedingungen, sehr gute Ergebnisse. Andere tun sich bei besserer Ausgangslage deutlich schwerer. Da müssen wir jetzt genauer hinschauen, das ist eine Aufgabe für unsere Forschung. Wir dürfen nicht einfach abwarten, ob wir in zehn Jahren schlauer sind.
Es liegt nicht am Bildungssystem, sondern an der Qualität des einzelnen Lehrers: Ist das also das ganze Geheimnis?
Diese These stützt zumindest die Bildungswissenschaft. Es kommt letztlich auf die Qualität des Unterrichtsgeschehens an. Kinder brauchen die richtigen Rahmenbedingungen. Die Schulsystemfrage ist ein Aspekt, aber es ist auch politisch nicht weiterführend, diesen zu sehr zu betonen und sich davon eine Veränderung zu erwarten. Viel mehr kommt es auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer an: "Teachers matter". Das zeigt sich auch empirisch.
Aus dem Kultusministerium werden jetzt sehr klare Vorgaben gemacht. Umstrittene Methoden wie "Schreiben nach Gehör" oder Versuche wie "Schule ohne Noten" werden beendet. Ist das sinnvoll?
Politischer Diskurs muss vielleicht ein paar Dinge zuspitzen. Der fachliche Diskurs sieht dazu anders aus. Eine Methode "Schreiben nach Gehör" gibt es fachlich zum Beispiel gar nicht. Sondern es ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für verschiedene methodische Ansätze. Unsere Absolventinnen und Absolventen sollen aber gar nicht auf eine Methode eingeschworen sein, sondern sie sollen das Grundlagenwissen haben, um selber Methoden kritisch beurteilen zu können. Methodische Entscheidungen müsse die Lehrkräfte in Bezug auf ihre spezifischen Schüler treffen. Es kann sehr gut sein, dass eine Methode in zwei unterschiedlichen Klassen vollkommen unterschiedlich funktioniert. Das muss eine Lehrkraft kritisch einschätzen können.
Diese Freiheit braucht der Lehrer?
Lehrerinnen und Lehrer brauchen die Kompetenz - im Sinne von Fähigkeit, aber auch im Sinne von Entscheidungsfreiheit -, die Entscheidungen für ihren Unterricht zu treffen.
Die Reformen der Lehrerausbildung kamen unter einer grün-roten Landesregierung, die in der Gemeinschaftsschule die Zukunft des Bildungssystems sah. Dieser Entwicklung wurde jetzt gebremst. Ist die Lehrerausbildung damit falsch aufgestellt?
Die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern bezieht sich nicht auf Schularten, sie bezieht sich auf Stufen - bei uns auf die Primar- und Sekundarstufe I sowie auf die Sonderpädagogik. Die pädagogische Arbeit an den einzelnen Schulen unterscheidet sich. Was man als Handwerkszeug braucht, ist aber das gleiche: Guten Unterricht ermöglichen!
Kritik wie die des Realschullehrerverbands, der Ihnen als PHs eine ideologische Ausrichtung vorwarf, führt in die falsche Richtung?
Wir haben uns in der Landesrektorenkonferenz sehr gewundert, wir sehen keine Faktengrundlage für diese Vorwürfe. Wir haben das Gespräch mit der Vorsitzenden des Verbands gesucht und konnten sicherlich einige Missverständnisse ausräumen.
Bei allen Reformen wurde eine Schulart vernachlässigt: die Grundschule. Was muss da passieren?
Eines ist relativ simpel: Unterricht kann nur wirken, wenn er auch stattfindet. Es fehlen momentan Lehrkräfte und es fehlen gute Lösungen für Krankheitssituationen. Diese Mangelsituation müssen wir in den Griff bekommen. Wir haben eine Schulpflicht für Kinder. Wir bräuchten auch eine Schulpflicht für das Land: Dass dieses nämlich verpflichtet ist, den nach den Stundentafeln und Unterrichtsplänen vorgesehenen Unterricht auch tatsächlich anzubieten. Und das natürlich in bestmöglicher Qualität.
Bildungsgewerkschaften ist die niedrigere Bezahlung für Grundschullehrer ein Dorn im Auge. Spielt das auch bei Ihren Studierenden eine Rolle?
Ich erlebe unsere Studierenden eher so, dass sie sich für den Beruf interessieren. Die Frage nach dem Verdienst ist da weniger ausschlaggebend. Eine Gerechtigkeitsfrage ist es aber schon. Kinderärzte studieren ja auch nicht kürzer, verdienen weniger, nur weil die Patienten kleiner sind.
Die deutsche Systematik ist es, dass die Ausbildungszeit eine Rolle spielt. Müsste das Studium auf Grundschullehramt verlängert werden?
Selbstverständlich. Alle Pädagogischen Hochschulen sind der Auffassung, dass die Lehrerinnen und Lehrer für die Grundschulen auch fünf Jahre Studium benötigen. Formal ist es jetzt schon so, dass auch Grundschullehrkräfte einen vollgültigen Masterabschluss machen, mit den gleichen Leistungspunkten wie alle anderen auch, weil aus dem Referendariat Leistungen angerechnet werden. Einen formalen Unterschied gibt es da also nicht. Fachlich wissen wir allerdings aus den Vergleichsstudien, dass fachfremd erteilter Unterricht problematisch sein kann. Ein zusätzliches Studienjahr wäre eine gute Möglichkeit für angehende Grundschullehrkräfte, ein weiteres Unterrichtsfach zu studieren.
Intuitiv würde man sagen: Mathe oder ein bisschen Lesen und Schreiben - das bekommt man in der Grundschule doch noch so hin, auch ohne Fachstudium. Warum ist das falsch?
Wenn man lesen kann, heißt es noch nicht, dass man versteht, was die Aufgabe "Lesen" eigentlich bedeutet. Was beim Lesenlernen geschieht, muss man gelernt haben. Man muss wissen, wie man die Lese-, Schreib- oder Rechenvorgänge von Kindern in ihren Lernverlauf einordnet. Wenn Fehler gemacht werden, sind das "Fenster" in die Lernvorgänge, über die man erkennen kann, was gerade im Kinderkopf geschieht. Möchte man das beeinflussen, muss man diese Zeichen lesen können. Es geht bei einem Fachstudium also nicht nur um zusätzliches Fachwissen, sondern um ein tieferes Verständnis der Erwerbsprozesse.
Kann so etwas im Austausch mit dem Kollegium aufgefangen werden?
Das glaube ich nicht. Dafür braucht man eine forschungsbasierte Ausbildung. Im Kollegium kann man aber einen guten Austausch haben über methodische Möglichkeiten, über den Umgang mit einzelnen Kindern, über sozialpädagogische Anforderungen.
In Deutschland ist der Einfluss des Elternhauses auf die Bildungsbiografie der Kinder noch immer sehr ausgeprägt. Warum wird das nicht besser?
Wir haben eine Abhängigkeit des schulischen Kompetenzerwerbs vom soziokulturellen Umfeld der Familien. Und wir haben das in Deutschland ausgeprägter als in vielen vergleichbaren Ländern. Das wissen wir schon seit einiger Zeit - und es ist eigentlich ein Skandal, dass das noch immer existiert. Gegen den Willen der Beteiligten. Die jüngste Pisa-Studie zeigt möglicherweise eine Trendwende in dieser Entwicklung. Das wäre sehr erfreulich. Aber die Lücke ist noch nicht geschlossen. Daran müssen wir unbedingt weiterarbeiten - Schulen, Hochschulen und Politik.
Ist die Leistungsspreizung in der Schülerschaft so deutlich auseinandergegangen, wie es Praktiker wahrnehmen?
Heterogenität im Klassenzimmer hat es schon immer gegeben. Aber die Art und Weise, wie die Kinder unterschiedlich sind, das ändert sich.
Früher klaffte die Lücke zwischen Professorenkind und Bauernkind, heute zwischen Professorenkind und Flüchtlingskind?
Ja. So könnte man das zuspitzen. Aber zur kulturellen Vielfalt kommen viele weitere Dimensionen von Unterschiedlichkeit hinzu - die Anregung aus Familie und Lebenswelt, die unterschiedlichen Lernerfahrungen, aber auch die unterschiedlichen individuellen Interessen und Stärken von Kindern.
Ein weiterer Ansatzpunkt war die Lehrerfortbildung. Muss da eine "Pflicht zur Fortbildung" her?
Gerade im Lehrerberuf ist Weiterbildung lebenslang notwendig, weil sich die Lernbedingungen verändern, weil sich das Wissen über den Erwerb verändert. Man kann nicht einmal studieren und davon 30 Jahre und mehr zehren. Die Weiterbildungskultur ist in Baden-Württemberg noch nicht so ausgebaut, wie sie sein sollte. Wir brauchen attraktivere Angebote - und wohl auch einen höheren Grad an Verbindlichkeit. Sich nach der Verbeamtung einfach zurückzulehnen, das würde nicht funktionieren. Sinnvoll wäre neben Einzelmaßnahmen auch, den Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit zu geben, ein weiteres Fach hinzu zu studieren. Ein berufsbegleitendes Studium.
Mit Blick auf die Demografie: Worauf sind Sie eigentlich eingestellt? Mehr Lehrer ausbilden? Bestand halten? Abbauen?
Da sind wir auf die Politik angewiesen. Die gibt uns die Ressourcen, mit denen wir Lehrerinnen und Lehrer ausbilden. Die Kompetenz, an den Hochschulen mehr Lehrkräfte auszubilden, die haben wir. Mit den notwendigen Ressourcen wäre das auch kurzfristig möglich. Das Land hat ja im aktuellen Doppelhaushalt schon 200 zusätzliche Ausbildungsplätze für das Lehramtsstudium für Grundschulen geschaffen.
Aus fachlicher Sicht: Braucht moderner Unterricht mehr Lehrer als bislang? Kleinere Klassen, intensivere Betreuung?
Pauschal zu sagen, wir müssen den Klassenteiler verringern, ist zu ungenau. Man braucht eher eine stärkere Ausdifferenzierung von Fachleuten für einzelne Bereiche - für Inklusion oder für Zuwanderer, die in kurzer Zeit Deutsch lernen müssen. Da braucht man Fachkräfte mit einer speziellen Ausbildung. Man wird daher auch mehr Lehrkräfte brauchen, als man in den letzten Jahren eingeplant hat. Aber nicht pauschal, wir sollten vielmehr differenziert auf den Bedarf schauen.