1. Weltkrieg | Die deutsche Niederlage
Die Deutschen hatten den Krieg verloren, das war spätestens seit dem 8. August 1918 klar, als sich bei einem britischen Panzerangriff auf den Frontbogen von Amiens erstmals ganze deutsche Bataillone ergaben. Es waren keine Reserveeinheiten, sondern kampferfahrene Fronttruppen. Sie konnten nicht mehr, und sie wollten nicht mehr. Von nun an wichen die deutschen Truppen im Westen kontinuierlich zurück. Aber sie brachen nicht auseinander. Und das war der Grund, warum viele Deutsche, vor allem Zivilisten, aber auch Soldaten, sich nicht besiegt fühlten. Dieser Zwiespalt wurde zu einer schweren Last für die Weimarer Republik, und sie hat zu deren Scheitern beigetragen.
Ein anderes Problem des Kriegsendes war das funktionale Zusammenwirken zwischen der Forderung des US-Präsidenten Wilson, nur mit einer demokratisch legitimierten Regierung in Deutschland über die Bedingungen eines Waffenstillstands verhandeln zu wollen, und dem intriganten Projekt Ludendorffs, der seit Sommer 1916 faktisch die Kriegführung in Händen hielt und den Politikern vorschrieb, was sie zu tun und zu lassen hatten, und der sich nun aus der Verantwortung für diese Niederlage schleichen wollte. Deswegen musste der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im Compiègne den Waffenstillstand unterschreiben, und eben nicht Hindenburg oder Ludendorff oder ein von ihnen beauftragter hoher Offizier. So konnte die politische Rechte in Deutschland hinterher erklären, das „im Felde unbesiegte Heer“ sei dem Dolchstoß aus der Heimat zum Opfer gefallen. Obendrein hatte Ludendorff rechtzeitig vor der Unterzeichnung des Waffenstillstands seine Entlassung provoziert und war aus Deutschland verschwunden. Das war die Grundlage der Behauptung, Ludendorff habe mit der Niederlage nichts zu tun.
Tatsächlich jedoch war es Ludendorff, der diesen Kriegsausgang zu verantworten hatte. Zum Jahreswechsel 1917/18, als Russland de facto aus dem Krieg ausgeschieden war und die Lage Deutschlands und Österreich-Ungarns sich so günstig darstellte wie seit Kriegsbeginn nicht, hatte Ludendorff auf Sieg gesetzt und alle Vorschläge zurückgewiesen, den Krieg aus einer Position der Stärke heraus zu beenden, indem man den Westmächten ein großzügiges Friedensangebot machte. Im November 1914, nach dem Scheitern des Schlieffenplans, waren der damalige Generalstabschef Falkenhayn und Reichskanzler Bethmann-Hollweg zu dem Ergebnis gelangt, das Beste, was die Deutschen erreichen könnten, sei ein unentschiedener Kriegsausgang. Der wäre Anfang 1918 vielleicht möglich gewesen. Aber Ludendorff und die politische Rechte, die Vaterlandspartei, wollten keinen Verständigungs-, sondern einen Siegfrieden. Sie spielten Vabanque – und verloren. Doch als sie verloren hatten, stritten sie jegliche Verantwortung dafür ab.
Dass die Behauptung vom „unbesiegten Heer“ bei vielen Zustimmung fand, hatte wesentlich damit zu tun, dass die deutschen Truppen im Herbst 1918 noch tief in Feindesland standen, keineswegs nur im Westen, sondern vor allem im Osten. Doch das spielte für die tatsächliche militärische Lage keine Rolle. Auch dass die Westfront bis zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Waffenstillstands hielt, spielte keine Rolle. Ausschlaggebend für den Kriegsausgang war nämlich der Zusammenbruch der Verbündeten Deutschlands: das Waffenstillstandsersuchen der Türkei im Oktober nach dem Zusammenbruch der Front in Palästina und Syrien, die Kapitulation Bulgariens nach der Auflösung ihrer Stellungen in Nordgriechenland sowie der Zerfall der Donaumonarchie. Deutschland hätte Truppen ins Inntal und auf den Balkan schicken müssen, doch die hatte es nicht mehr. Auch wenn jetzt anlässlich des Kriegsendes wieder einmal nur über den Krieg im Westen gesprochen wird – der Krieg wurde nicht nur im Osten begonnen, sondern auch dort entschieden, freilich von französischen und britischen Truppen, die in Palästina erfolgreich gewesen waren und von Saloniki aus die bulgarische Front durchstoßen hatten.
Politisch-strategische Ursachen führten zur deutschen Niederlage im Weltkrieg, vom Schlieffenplan bis zu Ludendorffs Vabanque im Frühjahr 1918, und vor allem war die Niederlage das Ergebnis einer falschen Bündnis- und Konfrontationspolitik. Aber die in Deutschland geführte Debatte um die Gründe für die Niederlage drehte sich wesentlich um taktische Fragen und das in diesem Feld schnellere und effektivere eigene Lernen. Tatsächlich hatten die Deutschen es geschafft, über vier Jahre die Überlegenheit der Entente an Menschen und Material durch taktisches Lernen auszugleichen. Darauf konzentriert, kamen maßgebliche Kreise zu dem Ergebnis, ein Versuch zur militärischen Revision der neuen Ordnung könne erfolgreich sein. Das waren die Voraussetzungen für den Weg in den Zweiten Weltkrieg. Die Deutschen glaubten, aus dem Ersten Weltkrieg gelernt zu haben, aber sie hatten das Falsche gelernt. So arbeiteten einige, kaum dass der eine Krieg beendet war, an der Vorbereitung des nächsten. Man kann aus der Geschichte lernen, aber das Falsche zu lernen, hat einen hohen Preis.
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