Young Dudes | Leningrader Nächte
Musik im Sozialismus – das scheint im Filmjahr 2018 europaweit ein Thema zu sein: Der Pole Paweł Pawlikowski folgt in Cold War einer tragischen Liebe unter Musikern durch die Wirren des Nachkriegs(ost-)europas; hierzulande porträtierte Andreas Dresen den Liedermacher Gundermann, der mit seiner Vergangenheit als Stasi-IM ringt. Kirill Serebrennikow widmet sich in Leto nun den Anfängen der legendären sowjetischen Rockband „Kino“. Sein Film ist dabei weder typisches Künstler-Biopic noch trockene Zeitgeschichte: mit knalligen inszenatorischen Ideen und großartiger Besetzung rekonstruiert der Regisseur die Stimmung des Leningrader Undergrounds der frühen 80er Jahre – und bricht sie auch immer wieder ganz bewusst.
Es ist eine clevere narrative Idee, gerade die Anfangsjahre der Band zu beleuchten, deren Sänger Wiktor Zoi nach einem kurzen, aber kometenhaften Aufstieg jung verstarb; sein geradezu kulthaftes Ansehen ist bis heute, auch unter Nachgeborenen, ungebrochen – Graffiti-Botschaften wie „Wiktor Zoi lebt“ finden sich an Hauswänden von Kiew bis Almaty. Es ist eine echte Aufgabe, in einem Spielfilm sichtbar zu machen, was Zois Heldenstatus etablierte, und zugleich Zuschauer anzusprechen, die nicht mit seinem Werk vertraut sind.
Leto setzt zu diesem Zweck noch vor der Bandgründung ein und stellt dem Publikum zunächst Zois Mentor vor: Mike Naumenko (Roman Bilyk), Frontmann der Band Zoopark und so etwas wie das Zentrum, um das die kleine Szene in Serebrennikows Film gravitiert. Aus auf Umwegen in die Sowjetunion gelangten Platten und Postern von Bob Dylan, David Bowie, Blondie und anderen hat sich Naumenko ein eigenes Image konstruiert und ist so Idol und Vaterfigur für sein Leningrader Gefolge geworden. Verheiratet ist er mit Natascha (Irina Starschenbáum), die dem oft weltfremden Mike Bodenhaftung verleiht – und auf deren Memoiren das Drehbuch des Films beruht.
Zugang zu Westplatten
Nach einem Gig im Leningrader „Rock Club“ sucht der junge Wiktor (Teo Yoo) den gestandenen Rockstar Mike auf, um ihm einige Songs vorzuspielen. Erst belächelt der Ältere den schlacksigen Newcomer, schon beim ersten Lied aber fällt ihm die Kinnlade herunter – ganz eindeutig hat der Junge Talent. Von nun an nimmt Mike seinen Zögling mit auf die richtigen Partys, gewährt ihm Zugang zu seiner umfangreichen Plattensammlung und hilft ihm bei der Aufnahme des ersten Albums. Zugleich entwickelt sich eine unübersehbare Anziehung zwischen Natascha und Wiktor.
Die Ausstattung und Inszenierung der Settings – Kneipen, Proberäume, WG-Zimmer –, in denen sich Leto abspielt, ist hervorragend gelungen. Wäre da nicht die federleichte, flüssige Kameraführung – wie sie mit analogen Kameras damals kaum möglich war –, könnten Teile von Serebrennikows Film direkt aus den 80er Jahren stammen. Was Leto aber über das bloße Nacherzählen heraushebt, sind die fantasievollen Musical-Szenen, die gekonnt mit Animation arbeiten: zu Neuinterpretationen von zeitgenössischen Songs wie Psycho Killer von den Talking Heads wird der Plot spielerisch aufgebrochen, und die jungen Protagonisten verlassen den tristen sowjetischen Alltag in ihre anachronistische Fantasiewelt. Höhepunkt ist eine Coverversion von David Bowies All The Young Dudes, die in einem Cameo-Auftritt von der russischen Punkband Shortparis interpretiert wird.
Davon abgesehen ist es natürlich vor allem die Musik der Band Kino, die den Film trägt und ihm seinen ambivalenten Tonfall zwischen Aufbruchsstimmung und Melancholie verleiht. Serebrennikow nähert sich der Kreativität und der Hoffnung seiner Figuren angenehmerweise ohne Zynismus – was nach dem Vorgängerfilm Der die Zeichen liest nicht unbedingt zu erwarten war. Dort drehte sich die Story um einen radikal christlichen Gymnasiasten, der bei der Verwirklichung seines reaktionären Weltbildes vor nichts zurückschreckte. Hier aber spürt man die Begeisterung des Regisseurs für den rebellischen Esprit der Jugend – wenn auch das Wissen um den noch in der Zukunft liegenden Tod beider Protagonisten implizit im Film mitschwingt.
Dass ausgerechnet Serebrennikow nun die Geschichte dieser Band erzählt hat, die aufgrund ihrer westlichen Einflüsse auch kritisch von den sozialistischen Autoritäten beäugt wurde, kann man außerdem durchaus als autobiografischen Kommentar lesen: Der Theater-, Opern- und Filmregisseur steht seit über einem Jahr unter „Hausarrest“ – die offizielle Anklage lautet Veruntreuung staatlicher Fördermittel von rund einer Million Euro. Dabei gilt als wahrscheinlich, dass Serebrennikows offene Kritik an Putin und seine Unterstützung der russischen LGBT-Szene das eigentliche Motiv für seine Verhaftung sein dürften. Trotz internationalen Protests von Film-Prominenten wie Cate Blanchett und Volker Schlöndorff wurde der Arrest des Filmemachers erst kürzlich erneut verlängert – Leto musste der Regisseur also unter diesen strengen Auflagen fertigstellen.
Der Fokus des Films liegt nicht zuletzt in diesem Kontext gesehen erstaunlicherweise ganz auf dem befreienden Moment der Kreativität – und weniger auf den Mechanismen der Repression, deren historische Methoden Leto zumeist eher humorvoll betrachtet. So gelingt Serebrennikow ein mitreißendes, stylisches Künstlerporträt zwischen Nostalgie und Zuversicht in die andauernde subversive Kraft des kreativen Ausdrucks.
Info
Leto Kirill Serebrennikow Russland, Frankreich 2018, 126 Minuten
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