Pogrom-Gedenkfeier in Mosbach: "Gewalt existiert, bevor sie passiert"
Von Ursula Brinkmann
Mosbach. Was vor 80 Jahren in Mosbach geschah - die Synagoge wurde niedergebrannt - wird jedes Jahr am 10. November an dem Platz, an dem sie gestanden hatte, in mahnende Erinnerung gerufen. Und es scheint, als könne der Platz selbst etwas bewirken in den Menschen, die sich dort versammeln. Auch heute noch. Mehr als sonst sind es, vielleicht fast 200. Sie stehen schweigend und nachdenklich in der Dämmerung, in der der Gedenkstein für die jüdischen Opfer angestrahlt wird, daneben ein Kranz. Vorsichtig beendet der klagende Klang einer Klarinette die Stille.
Die Eberbacher Musikstudentin Tanja Wilbrandt spielt ein Kleszmer-Stück, bevor Rezitator Stefan Müller-Ruppert ein Gedicht von Bruni Kantz vorträgt, das den Titel "Reichspogromnacht" trägt. Die Lyrikerin hat dem zum 75. Jahrestag veröffentlichten Text eine Mahnung zur Seite gestellt: "Gewalt existiert, bevor sie passiert." Ganz diesem Gedanken verhaftet war, was das Gedenken an die Pogromnacht bei Bürgermeister Michael Keilbach auslöst: "Das Thema Diskriminierung, Ausgrenzung und Vernichtung ist kein abgeschlossenes Thema der Historie. Nein, es ist rings um uns herum Alltag." Gerade jetzt rief Keilbach mit deutlichen Worten und Blick auf antisemitische Parolen, Neonaziaufmärsche und den Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh dazu auf, aus der Teilnahmslosigkeit herauszukommen und für Verständigung und Versöhnung einzutreten.
Dass die Ereignisse um den 9. November 1938 gar nicht so "unvorstellbar" sind, wie sie uns heute erscheinen mögen (Keilbach), das kam in einem weiteren von Müller-Ruppert vorgetragenen Text zum Ausdruck, der überschrieben ist: "Euch fehlt die Fantasie." Geschrieben hat ihn der aus einer großbürgerlich-liberalen jüdischen Berliner Familie stammende Arzt Martin Gumpert vier Jahre vor der Reichspogromnacht. "Euch fehlt die Fantasie, was wahr wird, zu ersinnen, euch fehlt die Kraft, was wirklich wird zu glauben, euch fehlt der Mut, was klar ist zu erkennen, euch fehlt das Wort, um was ihr wisst zu sagen."
Nach dem Gedenken am Synagogenplatz gedachte man der Verbrechen von 1938 und den darauf folgenden Kriegsjahren mit einem ökumenischen Gottesdienst in der voll besetzten Kirche St. Juliana. "Wir Christinnen und Christen wollen wach bleiben", sprach Priesterkandidat Christian Schätzle für alle aus. Zurückblickend auf das Versagen der Kirchen im Nationalsozialismus, stellte Pfarrerin Stefanie vom Hoff die Nächstenliebe in den Mittelpunkt ihrer Predigt. Als ob auch schon die Psalmbeter des Alten Testaments die Fantasie hatten, betete die Gemeinde aus dem 74. Psalm, der ein Klagelied über die Entweihung des Tempels durch Feinde ist: "…und sie verbrannten alle Gottesstätten ringsum im Land. Zeichen für uns sehen wir nicht…" Die Zeichen zu erkennen, sich der eigenen Verantwortung immer wieder neu bewusst zu werden und der Gewalt zu begegnen, bevor sie passiert, das ist die "Wichtigkeit des Erinnerns" (Michael Keilbach).