Neudenau: In die Stufen des Schlosses schrieben sich Generationen von Schülern ein
Von Peter Lahr
Neudenau. Ein Schloss, das als Schule dient. Da braucht es nicht viel Fantasie und man landet bei Harry Potter und der "Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei". Dass ohne magische Sprüche und fleißige Hauselfen das Leben in einer Schloss-Schule ganz schön anstrengend sein konnte, weiß Wilfried Straßer aus eigener Erfahrung: "Vor dem Winter mussten wir in der Pause das Holz auf Händen tragen und in den Speicher nach oben bringen", berichtet er von seiner (kurzen) Schulzeit im Neudenauer Schloss. Der Heimatforscher erinnert sich auch gut an Josefine Weihrauch, deren Leben auf fast schon schicksalhafte Weise mit dem Areal verbunden ist und deren Sammlung den Grundstock für das heutige Heimatmuseum bildet.
Mit einer 800-jährigen Baugeschichte kann das Neudenauer Schloss aufwarten. Und wenige kennen sie so gut wie Elisabeth und Wilfried Straßer. Zusammen mit dem Heimatverein machen sie sich immer wieder stark für das Kleinod. Anfang des 13. Jahrhunderts liegen die Ursprünge der heutigen Anlage. Als Erbauer gelten die Herren von Dürn (Walldürn), staufische Gefolgsleute, die den Ort zu einer Stadt mit Marktrecht erheben wollten. Dazu passen die Dendrodaten, die der Schwäbisch Haller Bauhistoriker Gerd Schäfer präsentiert. Demnach wurde das Holz aus dem Turm 1250 geschlagen. Dass dieser Turm freistand und dazu im 45-Grad-Winkel zur ursprünglichen Wehrmauer, das bildet für Schäfer das "Alleinstellungsmerkmal" der Anlage.
"Über den Bergfried ist viel geschrieben worden. Viele Autoren schrieben voneinander ab, ohne je darin gewesen zu sein", kommentiert Wilfried Straßer die Sekundärliteratur. Er entdeckte vor Ort zwei Giebelansätze. Die untersten begannen etwa neun Meter über dem Hofniveau. Das erste Giebeldach sei später aufgestockt und mit Fenstern versehen worden. 22 Meter hoch wurde der Turm, den im Lauf der Jahrhunderte auch mal eine "modische" Turmhaube zierte.
Die Mantelmauer der alten Burg diente gleichzeitig als Stadtmauer und sicherte den Palas. Das einstige Hauptgebäude der Burg vergrößerten und modernisierten die Leininger 1840. Wer heute durch den Haupteingang ins Museum geht, sollte einen Blick auf die über einen Meter starke Außenmauer werfen. Für Straßer ein sicheres Indiz für eine mittelalterliche Errichtung. Noch klarer wird die Baugeschichte, wenn man in den Keller hinabsteigt. Dort überrascht eine gewaltige Konstruktion. "Ein Gewölbe wie in der Krypta des Speyrer Doms", findet der Experte.
Nach den Herren von Dürn, die Ende des 13. Jahrhunderts ausstarben, wechselten die Besitzer der Burg häufiger. Burkhard Sturmfeder verkaufte sie 1364 an den Mainzer Kurfürst, der bis 1802 das Sagen hatte. Mit dem Kurfürst von Henneberg kann Straßer auch den Moment benennen, in dem aus der Burg ein Schloss wurde. Denn um 1500 sorgte ein Renaissance-Anbau für repräsentative und zeitgemäße Wohnkultur. Seitdem lese man nur noch vom "Neudenauer Schloss".
Mit der Säkularisation beginnt die Leininger Zeit, die etwa ein halbes Jahrhundert umfasst. "Ein Privatmann namens Nägele aus Heidelberg erwarb die Anlage", weiß Straßer. Nach dessen frühem Tod erwarb die Stadt Neudenau das Areal und baute das Haupthaus zum Schulhaus um. Von 1872 bis 1961 schrieben sich Generationen von Schülern in die breiten Eichendielen der Treppe ein – und zwar wortwörtlich. Denn entlang des Handlaufs sind die Spuren unzähliger Nagelschuhe bis heute leicht zu erkennen. Da zur Volksschule auch eine Hauptlehrerwohnung als Domizil des Schulleiters gehörte, erblickte Josefine Victoria Weihrauch am 11. März 1890 im Schloss das Licht der Welt. War doch ihr Vater Wilhelm Weihrauch Rektor der Volksschule.
Die junge Frau folgte dem beruflichen Vorbild des Vaters und kehrte 1918 als Lehrerin zurück nach Neudenau. Hier widmete sie sich nicht nur dem Unterricht. Sie sammelte mit Heiner Heimberger Sagen und Volksüberlieferungen und entschloss sich 1933, ein Heimatmuseum zu begründen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sammelte sie weiter und widmete sich denkmalpflegerischen Fragen. Erstmals öffnete ihr Museum 1951 öffentlich. Auch nach der Pensionierung wirkte Weihrauch mit aller Kraft für das Museum, das sie 1964 der Stadt übergab. Ausgerechnet in ihrem Geburtszimmer stürzte sie als 90-Jährige so unglücklich über einen Teppich, dass sie wenige Tage darauf starb.
Sieben Räume, zwei Flure und das große Speicherzimmer beherbergten die Sammlungen, als Bürgermeister Paul Röckel 1987 die Idee hatte, ein "richtiges" Museum daraus zu machen. Fünf junge Volkskundler kamen direkt von der Universität und legten los. Für zwei Millionen Euro entstand das "Josefine-Weihrauch-Heimatmuseum", das 1991 eingeweiht wurde. Als hauptamtliche Museumsleiterin blieb Andrea Göldner. Zusammen mit weiteren Aktiven des 1977 gegründeten Heimatvereins halfen die Straßers immer wieder aus, wenn "Not am Mann" war. "Sie hatte immer gute Ideen", beschreibt Elisabeth Straßer Göldners Engagement. So nutze man bis heute mehrere Räume für wechselnde Sonderausstellungen. Von aktueller Kunst bis zur Heimat- und Vereinsgeschichte reicht der Fokus. Dieses Jahr sorgte der Lockdown für eine Zwangspause.
Als Göldner 1999 weiterzog, stellte Bürgermeister Manfred Hebeiß den Mitgliedern des Heimatvereins die Gretchenfrage: "Was machen wir mit dem Museum? Entweder Ihr betreibt es weiter, oder wir schließen es zu." Die Sammlung ging wieder in ehrenamtliche Hände über. Damit schlug auch die Stunde von Elisabeth Straßer. "Ich möchte das Museum noch mehr mit Leben füllen", beschreibt sie ihre Motivation. Sie will alte Zeitzeugenberichte mit originalen Gegenständen verbinden, "Geschichte und Geschichten erzählen". Auch Familien mit Kindern sollen hier Geschichte hautnah erleben können. Etwa mit einer Eisenbahn oder einer Ritterburg zum Selberspielen.
Aus einem historischen Hochzeitszug beim traditionellen "Gässlesmarkt" entwickelte sich eine gut 300 Kostüme zählende Sammlung, die immer wieder "unter die Leute kommt". Sie habe zwar kein Lieblingsstück, aber schönes Geschirr und Möbel haben es Elisabeth Straßer angetan. Zudem betreut die Ahnenforscherin das Archiv, das ebenfalls im Schloss untergebracht ist. Über den neuesten Zugang freut sie sich besonders: sechs Kirchbücher, beginnend 1608, bieten ausführliches Quellenmaterial.
Seit 1983 publiziert der Heimatverein regelmäßig die "Heimatblätter". Nummer 434 ist Wilfried Straßers aktuelle Arbeit. "Dazu brauchen wir das Archiv", betont der Heimatforscher, der sich im Museum und der Gangolfskapelle auskennt wie in der berühmten Westentasche. Die hohe Kunst, zu jedem Objekt eine spannende Geschichte zu erzählen – sie beherrscht der ehemalige Lehrer ebenfalls. Fünf Zentimeter Pflichtbewusstsein und die Überzeugung, dass die Talente nicht vergeblich in einem schlummern sollten, sind für sein Engagement ausschlaggebend.
Bis heute beliebt ist das Neudenauer Schloss auch als Ort für Vermählungen. Ein Drittel bis die Hälfte der Neudenauer Paare gibt sich in mittelalterlichem Ambiente das Ja-Wort. Die Zukunft fest im Blick hat auch Bürgermeister Hebeiß. Er plant eine Generalsanierung des Schlosses inklusive behindertengerechter Zugänge. Rund fünf Millionen Euro will man hier investieren. Aktuell sei die Vorbereitung der europaweiten Ausschreibung für die Planungsarbeiten angelaufen, konkretisiert Bauhistoriker Gerd Schäfer. Ein neues Schlosskapitel könnte also (relativ) bald beginnen.