Global | Agrar-Spekulanten erobern die Felder
Seit Thomas Piketty wissen wir mehr über die Einkommens- und Vermögensungleichheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Die Ungleichheit wird größer, nicht kleiner, weil Vermögen so gut wie überall weit ungleicher verteilt sind und schneller wachsen als Einkommen. Allerdings erfasst die World Wealth and Income Database, an der Piketty und viele andere arbeiten, nur Teilaspekte der tatsächlichen Ungleichheit in unserer Welt. Ökonomische Ungleichheit bedeutet stets Machtgefälle. Kapital, so eine unüberholte Einsicht des alten Marx, ist keine Sache, sondern ein Herrschaftsverhältnis. Das gilt auch vom Grundeigentum.
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten, Tendenz steigend. In den reichen Ländern des Nordens sind nur noch zwei bis vier Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig. Doch nach wie vor ist der Boden, vor allem der fruchtbare und landwirtschaftlich nutzbare Boden, die zentrale Ressource, von der die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung abhängt. Und dieser Boden ist heute weit ungleicher verteilt als noch vor vierzig Jahren. Die Ungleichheit des Grundeigentums wird seit etlichen Jahren von einer Gruppe von Organisationen untersucht, die sich in der International Land Coalition zusammengefunden haben. Diese Koalition von heute 250 Organisationen weltweit hat vor Kurzem den Bericht „Uneven Ground“ über die globale Ungleichverteilung des Bodens publiziert.
Konventionell gemessen – zählt man registrierte Grundeigentümer im Verhältnis zur Fläche des privaten oder öffentlichen Grundbesitzes – hat die Ungleichheit der Bodenverteilung abgenommen. Schaut man genauer hin, sieht das ganz anders aus. Zunehmend sind Bauern, gerade in Nordamerika und in Europa, nominell Eigentümer des Bodens, den sie bearbeiten, und zählen als selbstständige Landwirte. Tatsächlich aber sind sie durch langfristige Verträge mit Agrarkonzernen und der Lebensmittelindustrie gebunden und existieren nur als Glieder landwirtschaftlicher Produktions- und Lieferketten. Diese werden von wenigen riesigen Agrarkonzernen beherrscht. Wer Zehntausende von kleinen und mittleren Farmbetrieben kontrolliert, kann sich den Landraub oder -kauf sparen. Der findet allerdings nach wie vor statt.
Verdeckter Landraub
Die Ungleichheit der Bodenverteilung hat seit den 1980er Jahren wieder erheblich zugenommen und nimmt weiter zu. Den reichsten zehn Prozent der Landbevölkerung gehören mehr als 60 Prozent des Bodens – gemessen am Bodenpreis. Ein Prozent der landwirtschaftlichen Unternehmen besitzt oder kontrolliert heute mehr als 70 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Böden, der Felder, Plantagen und Farmen rund um den Globus. Zu diesem einen Prozent gehören nur multinationale, global operierende Agrarkonzerne wie die ABCD Gruppe: ADM, Bunge, Cargill und Dreyfuss, die zusammen den Weltmarkt für Weizen, Mais und Sojabohnen beherrschen.
Noch heute leben 2,5 Milliarden Menschen als Kleinbauern, vor allem in Lateinamerika, Asien und Afrika. Im reichen Norden, vor allem in Europa und Nordamerika, wachsen die Farmen und schrumpft die Zahl der Farmer. Die Durchschnittsgrößen der landwirtschaftlichen Betriebe wachsen rapide; eine steigende Zahl von amerikanischen und europäischen Farmern ist durch langfristige Lieferverträge an Agrar- und Lebensmittelkonzerne, Handelsketten und indirekt an Investmentfonds gebunden.
Weltweit geht die Enteignung von Kleinbauern und kollektiven Grundbesitzern wie indigenen Völkern voran. In vielen Entwicklungsländern sind ihre Besitztitel nicht vorhanden oder umstritten, sie lassen sich leicht aushebeln. Landkäufe spielen eine zentrale Rolle, ebenso wichtig ist der offene oder verdeckte Landraub. Der geht wie im Amazonasgebiet oft auf Kosten der Naturgebiete, die dem Staat gehören oder von ihm geschützt werden. Boden ist im Kapitalismus eine Ware, hat einen Preis, mit der Ware Boden wird spekuliert. Agrar- und Lebensmittelkonzerne wie international operierende Handelsketten spekulieren mit. Heute sind internationale Finanzkonzerne die wichtigsten Akteure, die sich nicht nur um urbanes Bauland oder Immobilien raufen, sondern ebenso heftig um landwirtschaftlich nutzbaren Boden (der Freitag 44/2020). Diese Finanzinvestoren operieren auf kurze Frist, die Landkäufe und Investitionen in Kontrakte mit Farmbetrieben sollen sich rasch und möglichst hoch rentieren. Sie treiben die Bodenkonzentration voran, erzwingen die beschleunigte Verwandlung traditioneller Bauernwirtschaften in Monokulturen und mechanisierte Großplantagen, ohne Rücksicht auf langfristige Folgen. Dank der fortschreitenden Bodenkonzentration werden immer mehr Bauern gezwungen, sich den kurzatmigen Verwertungszyklen der Finanziers zu unterwerfen.
Die Bodenkonzentration, die Herrschaft der großen Agrarkonzerne und der wachsende Einfluss der Finanzinvestoren haben deutlich sichtbare Folgen. Zum Beispiel für den Regenwald, der dem Landhunger der neuen Großgrundbesitzer zum Opfer fällt. Wo bis vor Kurzem noch Regenwald war, wird heute auf Sumatra auf riesigen Plantagen Palmöl erzeugt. Im Amazonasgebiet werden Kleinbauern ebenso vertrieben wie die indigenen Völker in ihren Schutzgebieten, um Platz zu machen für gigantische Viehfarmen, kontrolliert von wenigen Agrarkonzernen.
Kleinbauern sind sorgsamer
Es gibt deutliche Zusammenhänge zwischen der wachsenden Ungleichheit der Bodenverteilung, dem Verlust an Biodiversität, der zunehmenden Wasserknappheit, der Erschöpfung oder Vergiftung der Böden durch Raubbau und Überdüngung, der Klimakrise und globalen Gesundheitskrisen, etwa der Zunahme zoonotischer Krankheiten wie Covid-19 (der Freitag 43/2020). Wo die moderne Plantagenökonomie mit ihren Monokulturen sich ausbreitet, wächst die Armut. Die Zahl der Landlosen ebenso, von denen es heute weltweit mehr gibt als je zuvor. Weil der Landbevölkerung in den armen Ländern des Globalen Südens der Zugang zum Boden streitig gemacht, mithin die Lebensgrundlage entzogen wird, nehmen die Migrationsströme zu. Wer landlos wird, muss wandern, um anderswo Zugang zu Land, Wasser, Wald zu finden. Die Bodenkonzentration treibt die Massenmigration, die sich bis heute in der Hauptsache im Globalen Süden abspielt.
Weil der Kampf um die Verteilung des Bodens eine zentrale Rolle spielt für die Welternährung, den Wasserverbrauch, die drohende Klimakatastrophe und das Artensterben schlagen die Autoren der Studie eine große Initiative vor: Der Kampf um das Grundeigentum muss mit allen Mitteln geführt werden, um die Rechte der Kleinbauern und der kollektiven Bodennutzer zu stärken, die seit jeher mit dem Boden und all seinen Ressourcen pfleglicher und sorgsamer umgehen als die neuen global agierenden Großgrundbesitzer.
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