Ist die Pressefreiheit in Ungarn noch zu retten?
Corona hat die Pressefreiheit der ungarischen Journalistinnen und Journalisten weiter eingeschränkt. Reporter ohne Grenzen warnt und ruft die Europäische Union auf, zu handeln. Aber kann diese Ministerpräsident Viktor Orbán wirklich in die Schranken weisen? Ervin Güth ist skeptisch – er ist einer der letzten unabhängigen Lokaljournalisten in Ungarn.
Den Start ins neue Jahr verbringt Ervin Güth im Homeoffice, in seiner Wohnung mitten in der Stadt Pécs, die im Süden von Ungarn liegt. Sein Sohn kommt ins Arbeitszimmer gelaufen und auch seine Frau ruft zwischendurch rein. Güth ist mit seiner Familie in Quarantäne. Sie sind positiv auf COVID-19 getestet. Offiziell hat er noch kein Schreiben vom ungarischen Gesundheitsamt bekommen „Ich bin freiwillig in Quarantäne“, sagt er und lacht. Nicht verzweifelt – sondern eher resigniert. Aber auch die Quarantäne und Covid-19 kann ihn nicht davon abhalten, über die Geschehnisse in Pécs zu berichten.
Die Lokalpresse ist in der Hand Orbán-freundlicher Unternehmen
Ervin Güth arbeitet als freier Lokaljournalist für das Online-Magazin Szabad Pécs. Szabad heißt auf Ungarisch so viel wie unabhängig oder frei. Mit seinem Kollegen Babos Attila berichtet er über die fünftgrößte Stadt Ungarns. Sie gehören zu den letzten Kämpfern für eine unabhängige Lokalpresse in Ungarn. Vor über drei Jahren haben sie das Online-Magazin gegründet und finanzieren sich hauptsächlich über Spenden. Der Grund ist ähnlich wie bei so vielen anderen unabhängigen Journalisten in Ungarn: Lörinc Mészáros, einer der engsten Freunde Orbáns, hat das Regionalblatt, für das die beiden früher gearbeitet haben, gekauft. Laut Reporter ohne Grenzen (RSF) ist seit 2017 die ungarische Regionalpresse vollständig in der Hand Orbán-freundlicher Unternehmen. Als das abzusehen war, hat Güth vorsorglich gekündigt, Babos wurde entlassen. Also taten sie sich zusammen.
Studie zeigt: Ungaren stehen der Corona-Berichterstattung skeptisch gegenüber
Wie wichtig ihre Arbeit ist, merken sie vor allem in der Corona-Krise. Als Mitte März der Notstand in Ungarn verhängt wurde, schossen die Klick-Zahlen in die Höhe. „Das war ungeheuerlich“, sagt Güth. Mehr als eine Million Nutzer besuchten am Tag die Seite. „In normalen Jahren waren das ungefähr fünf- bis zehntausend am Tag.“
Glauben die Ungarn der Regierungspartei Fidesz von Orbán nicht mehr? Eine Studie der medienpolitischen NGO Mérték Media Monitor und des Marktforschungsinstituts Medián Opinion and Market Research im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung aus November 2020 zeigt, dass die Mehrheit jedenfalls mehr als skeptisch ist, vor allem, was die Corona-Berichterstattung angeht. Knapp 60 Prozent der Befragten – Oppositionswähler sowie Fidesz-Unterstützer– schätzen, dass alle wichtigen Nachrichtenquellen von politischer Seite beeinflusst werden. Fast vier Fünftel finden das nicht akzeptabel. Und über 80 Prozent glauben, dass die Regierungspartei mehr Einfluss ausübt als Oppositionsparteien.
Orbán droht mit langen Haftstrafen, wenn Falschmeldungen über Corona verbreitet werden
Dazu passen auch Güths Erfahrungen. Bei den letzten Kommunalwahlen im Oktober 2019 hatte die Oppositionspartei in Pécs gewonnen. Danach wurde die Situation für sie als Lokaljournalisten ein bisschen besser. Früher wurden sie nicht zu Pressekonferenzen eingeladen und wenn sie offizielle Anfragen gestellt haben, gab es keine Antworten. Wenigstens seien sie dann nicht mehr von lokalen Stellen kategorisch boykottiert worden. „Aber sie verstehen noch nicht, wie wir unabhängigen Medien arbeiten“.
Und jetzt während Corona? Ist es wieder fast so wie früher. Sie bekommen kaum Antworten. Nicht wegen der Oppositionspartei, sondern wegen des Notstands. Orbán hat kurz nach dem Lockdown im März ein Ermächtigungsgesetz erlassen. Darin steht: Wer Falschnachrichten über das Coronavirus und die Maßnahmen der Regierung veröffentlicht, dem drohen bis zu fünf Jahren Haft. Wird dadurch die freie Presse mundtot gemacht? Güth lächelt nur müde. Die Regierung wolle damit nur Angst schüren. „Das Problem mit diesem Gesetz ist, dass es nicht exakt genug ist.“ Er habe dadurch seine Art zu berichten nicht geändert. Allerdings werden Informationen zur Corona-Situation nur noch zentral herausgegeben. Lokale Stellen dürfen ihm nicht mehr auf seine Corona-Fragen antworten. „Sie haben nicht mehr die Erlaubnis dafür.“ Und das gelte für die gesamte Bevölkerung.
Reporter ohne Grenzen mahnt: Pressefreiheit in Ungarn akut in Gefahr
Also muss sich diese auf die Informationen aus den Medien verlassen. Eine Analyse von Mérték Media Monitor aus dem Jahr 2019 zeigt, dass knapp 80 Prozent der Medien regierungsnah sind. Mittlerweile gehören mehr als 500 ungarische Medien zu der Mitteleuropäischen Presse- und Medienstiftung Kesma. Diese wurde vor über zwei Jahren gegründet, indem mehrere Oligarchen ihre Medienunternehmen Kesma per Schenkung überließen. Seitdem werden immer mehr Medien übernommen. Der letzte prominente Fall: Index.hu, laut des aktuellen Digital News Report des Reuters Institute Anfang 2020 noch das beliebteste Online-Medium. Viele Redakteurinnen und Redakteure kündigten daraufhin und gründeten im vergangenen Herbst die Online-Nachrichtenseite Telex.
Rechtsstaatlichkeit oder Kartellrecht – womit kann die Europäische Union Orbán drohen?
„Die EU darf sich nicht damit abfinden, dass ihr Grundwert Pressefreiheit in den eigenen Reihen permanent mit Füßen getreten wird“, sagte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF) Christian Mihr Ende November bei einer digitalen RSF-Podiumsdiskussion. Ungarn ist auf dem RSF-Pressefreiheit-Index auf Rang 89 von 180 gerutscht. Um die Pressefreiheit in allen EU-Staaten zu sichern, war die große Hoffnung bislang das Instrument der Rechtsstaatlichkeit. In Kurzform: Kein Geld mehr für EU-Staaten, die sich den Grundsätzen der EU widersetzen. Nach Boykott von Ungarn und Polen und zähen Verhandlungen dann die Einigung im Dezember, als über den EU-Haushalt abgestimmt wurde. Strittig wurde danach vor allem ein Punkt gesehen: Dass Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit nur dann geahndet werden, wenn sie EU-Mittel betreffen.
Aber ist der EU-Grundwert der Pressefreiheit finanziell zu erfassen? Vizepräsidentin des EU-Parlaments Katarina Barley argumentierte bei der RSF-Podiumsdiskussion: „Die Medien haben eine Wächterfunktion, die müssen aufdecken. Genau wissen wir es erst, wenn der europäische Gerichtshof darüber entschieden hat. Ich hoffe natürlich, dass er es so sieht.“ Aber es bleibt fraglich, ob die Rechtsstaatlichkeit wirklich die Rettung der freien Presse sein kann. Journalist Ervin Güth sieht die Verhandlungen nicht als gescheitert. „Ich glaube nicht, dass das eine Niederlage für die Rechtsstaatlichkeit ist. Denn früher gab es nichts, kein Dokument. Und jetzt gibt es eins.“ Er wünscht sich aber, dass die EU den Medienmarkt in Ungarn kartellrechtlich prüft. Kesma verzerre den Markt, auch den Werbemarkt. „Was die machen ist ungeheuerlich“. Auch Barley spricht sich dafür aus: „Ich bin dafür, dass das Kartellrecht nicht nur monetär betrachtet wird.“ Offen bleibt, ob Orbáns Regierung sich davon einschüchtern lässt oder wieder ein Schlupfloch findet.
Mehr Förderung für unabhängige Journalisten in ganz Europa
Aber was würde dann kurzfristig helfen? „Ich würde mir mehr Förderung für Medienunternehmen wünschen. Aber das sind heikle politische Fragen“, sagt Güth. EU-Gelder zur Unterstützung von unabhängigen Medien haben einen Beigeschmack: „Es ist sicherlich ein Dilemma. Ein Medium, was finanziell von einer Autorität abhängig ist, ist natürlich in der Gefahr, wiederum zu Gunsten dieser Autorität zu schreiben“, sagt EU-Politikerin Barley.
Eine andere Möglichkeit wäre auch, die schon bestehende Förderung internationaler Netzwerke und Projekte, die Stärkung unabhängiger Journalisten oder das Angebot projektbezogener Gelder auszubauen. Güth ist jedoch skeptisch, ob das den unabhängigen Lokalredaktionen wirklich mehr Pressefreiheit ermöglicht oder nicht eher den überregionalen Medien zugutekommt. Trotz aller Hürden wird er weiter schreiben und sich für unabhängige Berichterstattung einsetzen. „Wir haben Szabad Pécs gestartet, weil wir sahen, dass das nötig ist und das ist es immer noch.“
Der Beitrag entstand im Rahmen des Seminars „Auslandsberichterstattung: Berichten in der Corona-Krise“ im Master-Studiengang Journalistik am Institut für Journalistik der TU Dortmund unter Leitung von Prof. Dr. Susanne Fengler und Isabella Kurkowski.
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