Interview | „Es war richtig, die Notbremse zu ziehen“
Frau Gennburg, wie bewerten Sie das Urteil des Verfassungsgerichts?
Das ist ein mittelschweres Erdbeben, das sich zunächst einmal auf sozialer Ebene vollzieht – mit sozialen Härten, die insbesondere in der Pandemie abzufedern sind und denen wir als linke Regierung natürlich begegnen müssen und wollen. Aber auch auf demokratietheoretischer Ebene. Man muss es so sagen: Das Verfassungsgericht hat uns den Deckel einfach weggeschossen. In dieser Weise haben wir damit nicht rechnen können. Man hätte gedacht, dass der erste Senat des Verfassungsgerichts zu einzelnen Teilen des Mietendeckels ein Urteil spricht. Dass stattdessen der zweite Senat allein mit Blick auf die förmlichen Zuständigkeit die Nichtigkeit in dieser Härte erklärt, passt nicht dazu, wie schnell das Urteil jetzt angekündigt und gesprochen wurde. Es wurde ohne mündliche Verhandlung entschieden – und anscheinend, ohne sich mit den praktischen Folgen zu befassen.
Dass der Mietendeckel abgeräumt worden ist, überrascht Sie also?
Ja, dass er komplett abgeräumt wird. Und die Härte, mit der das geschieht. Man hätte diesen Beschluss auch etwas milder und realitätsnäher fassen können, zum Beispiel indem man ihn nicht auch auf die letzten Monate, sondern nur auf die Zukunft bezogen hätte.
Zur Person
Foto: rico_prauss
Katalin Gennburg sitzt seit 2016 für die LINKE im Berliner Abgeordnetenhaus. In der Fraktion ist sie Sprecherin für Stadtentwicklung, Tourismus und Smart City
In der Kritik steht jetzt allerdings auch die Berliner Landesregierung. Von einem Debakel die Rede. Inwiefern ist es eins?
Das Debakel ist vor allem ein soziales. Wir sind inmitten der Pandemie damit konfrontiert, dass die soziale Mietenregulierung weggeschossen wurde und wir jetzt schnell die sozialen Härten abfedern müssen. Politisch stehen wir zu dem, was wir getan haben. Es gab und gibt triftige Gründe, den Mietendeckel einzuführen. Er wurde auf der Straße erkämpft. Man denke an die zwei großen Volksentscheide, mit denen sich die Bewegung stadt- und mietenpolitischen Raum erkämpft hat. Oder an die Auseinandersetzungen mit der Deutschen Wohnen, die im Winter die Mieterinnen und Mieter frieren lässt, aber gleichzeitig die Mieten erhöht. Vor diesem Hintergrund der großen institutionellen Anleger, die die Mieten in die Höhe treiben, war für uns klar, diesen Akt der Notwehr umzusetzen. Dass CDU und FDP diese Klage eingereicht haben, sollte man auf jeden Fall bei der Wahlentscheidung am 26. September mitbedenken. Für uns stellt sich jetzt die Frage, welche Landeskompetenzen wir im Sinne einer sozialen Wohnraumversorgungspolitik weiter ausbauen. Und natürlich geht es nun auch darum, das Volksbegehren „Deutsche Wohnen enteignen!“ weiter zu unterstützen.
Der Mietendeckel war aber ein Prestige-Projekt. Dafür gab es ebenfalls viel Anerkennung aus der Zivilgesellschaft. Dass er kassiert wurde, muss doch auch schmerzen.
Ich war gestern auf der Demo mit etwa 20.000 Menschen. Mitten in einer Pandemie haben sie sich in weniger als 24 Stunden gegen Mieterhöhungen organisiert. Sie sind Sinnbild für eine bundesweite Bewegung für eine soziale Wende, die aus Mieterinitiativen aus ganz Deutschland besteht. Insofern ist das Urteil sicher für viele Leute sehr schmerzhaft. Der Mietendeckel war eben nicht nur ein Prestigeprojekt für eine linke Regierungsbeteiligung, sondern tatsächlich ein Herzstück für eine politische Wende. Eine linke Wende in der gesamten Politik – weg von der reinen Verwertungslogik und Renditeorientierung, die die Politik seit vielen Jahren im Griff hat.
In der taz war von „Hämeaushalten“ die Rede. Wie schwer ist das auch persönlich?
Ich bin als Politikerin Teil von sehr breiten Bündnissen, die gemeinsam daran gearbeitet haben, dass es jetzt diesen Mietendeckel gegeben hat. Das war ein kollektiver Prozess. Ich kann nicht sagen, dass sich jetzt an speziellen Akteuren eine Häme festmacht. Für mich ist es emotional ein harter Schlag gewesen, auf der Demonstration so viele Leute zu sehen, die es unmittelbar getroffen hat, dass sie jetzt Mieten werde zurückzahlen müssen. Trotzdem ist es absolut richtig gewesen, gegen den Mietenwahnsinn die Notbremse zu ziehen, und es ist auch richtig, jetzt weiterhin für die Vergesellschaftung zu streiten. Ich glaube, das sehen mehr Leute so, als einige sich klar machen möchten.
Wie sehen denn die konkreten Folgen für die Menschen aus?
Sehr viele sind mit potentiellen Nachzahlungen konfrontiert. Für sie ist es wichtig, an die Mieterberatungsstellen in den Bezirken, aber auch beim Mieterverein oder der Berliner Mietergemeinschaft heranzutreten. Die Schicksale sind so unterschiedlich, wie es die Umgehungsstrategien der Vermieter für den Mietendeckel bei den Schattenmieten waren. Man muss jetzt erst einmal schauen, welche Vermieter tatsächlich Nachforderungen stellen werden. Einzelne Wohnungskonzerne haben schon angekündigt, das nicht zu tun, andere wollen es tun und laden damit umso mehr zu ihrer eigenen Vergesellschaftung ein. All das wird sich erst in den nächsten Tagen sortieren. Allerdings haben schon in den letzten Jahren Leute für Mietenstreiks geworben. Ich nehme an, dass sie einen enormen Aufwind erfahren werden.
Soziale Härten müssen aufgefangen werden, haben Sie gesagt. Was wird die Landesregierung da konkret machen?
Es wird jetzt über einen Hilfsfonds diskutiert. Es ist aber einen Tag nach der Entscheidung noch nicht der Moment, die Lösung zu präsentieren. Für die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, die in Berlin einen sehr großen Wohnungsbestand haben, sollte der Mietendeckel außerdem auch weiterhin gelten, das muss jetzt klargestellt werden.
Mit diesem Urteil wird dem Bund mit Blick auf bezahlbaren Wohnraum viel Verantwortung zugesprochen. Was kann man denn jetzt noch auf Landesebene machen?
Die Mietenregulierung wird damit auf jeden Fall das große Thema der Bundestagswahl. Auf Landesebene weisen wir jetzt schon viele Milieuschutzgebiete aus, der soziale und kommunale Wohnungsbau wurde in den letzten Jahren bereits massiv angeschoben und muss noch mehr werden. Wir wollen Leerstand beschlagnahmen um Wohnungslosigkeit abzuwenden und ein Mieten- und Wohnungskataster für Transparenz auf dem Immobilienmarkt zu sorgen. Auch Vorkäufe und die Rekommunalisierung von Mietshäusern und Immobilien haben wir in der Koalition zur Priorität in Berlin gemacht. Das wird jetzt noch wichtiger werden, auch wenn das sicherlich noch etwas Streit mit der SPD bedeutet. Für die Finanzierung von Vorkäufen brauchen wir noch viel mehr Spielraum – und wir brauchen tatsächlich breitere Bündnisse für die Vergesellschaftung.
Der Mietendeckel war ein Resultat des Drucks der Straße. So ein Rückschlag kann eine Bewegung wütend machen oder lähmen. Was glauben Sie, wie es weitergeht?
Ein großer Slogan der Proteste in Griechenland während der Finanzkrise lautete „The fear is on the other side now“. Gestern, auf der Demonstration gegen das Urteil war ein wichtiges, stärkendes Momentum zu spüren: Hier geht es um gemeinsame Kämpfe. Die können auch dabei helfen, die Angst auf die andere Seite zu schicken, etwas Lähmendes in etwas Aktivierendes zu verwandeln. Die Berliner Mieterinnen und Mieter haben sich sofort in Bewegung gesetzt, und mit dem Volksbegehren „Deutsche Wohnen enteignen!“ gibt es ein klares nächstes Etappenziel. Dieses Urteil wird dem Begehren zur Vergesellschaftung des verspekulierten Wohnraums massiven Auftrieb verleihen.
Auch beim Thema Enteignung gab es eine „Gutachten-Schlacht“. Aber das Risiko wollen Sie als Linke eingehen?
Natürlich. Wir haben ja einen ganz klaren Kompass, an dem wir uns ausrichten. Wir wollen einen gemeinnützigen Wohnungssektor aufbauen. Dabei muss man viele, über Jahrzehnte gewachsene Widerstände überwinden. Da ist ein langer Atem und wirklich viel Kraft nötig. Dass die Vergesellschaftung neben dem Mietendeckel ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem starken gemeinnützigen Wohnungssektor ist, war für uns immer klar. Das Scheitern des Mietendeckels vor dem Bundesverfassungsgericht ist ein herber Rückschlag, vor allem für die soziale Situation der Mieterinnen und Mieter, aber mit dem Enteignungsvolksbegehren hat das überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil: Die Gutachten, die wir für das Enteigungsvolksbegehren im letzen Jahr angefragt haben, waren ja immer sehr eindeutig, während die Kompetenzfrage beim Mietendeckel etwas umstrittener war – selbst wenn vieles darauf hindeutete, dass die Regelungskompetenz für ein öffentliches Mietpreisrecht beim Land liegt.
Im Herbst ist auch in Berlin Wahl. Mieten und bezahlbare Wohnungen sind ein zentrales Thema der Linkspartei. Ist das für die Abgeordnetenhauswahlen jetzt verbrannt?
Nein, linke Politik ist immer Politik des offenen Visiers. Die grundlegende Ausrichtung unserer Mietenpolitk verändert sich durch das Urteil aus Karlsruhe um keinen Millimeter. Es geht um eine soziale Re-Regulierung. Die Mietenfrage ist die soziale Frage und ein Klassenkonflikt. Jetzt umso mehr. Deswegen wird es auch die politische Frage für den Herbst bleiben.
Und das wird auch weiterhin verfangen? Haben Sie nicht Sorge, dass die Wählerinnen und Wähler die Hoffnung auf eine Umsetzung Ihrer Ziele verlieren?
Es wird jetzt darum gehen, zu kommunizieren, dass es natürlich weitergehen muss und dass wir sehr mächtige Gegner haben. Aber ich denke, FDP und CDU haben sich mit ihrer Klage keinen Gefallen getan, weil sie die Mietenfrage damit erneut angezündet haben. Der Mietendeckel war eben nicht einfach nur ein Prestigeprojekt von Parteien, sondern ist von Mieterinnen und Mietern erkämpft worden. Sie haben die soziale Frage beim Wohnen gestellt und ein Eingreifen gefordert. Diesen Forderungen sind wir verpflichtet und setzen sie dann auch im Parlament um. Wenn es dann herbe Rückschläge gibt – wie den durch das Urteil des Bundesverfassungsgericht –, dann werden wir auch mit den Menschen, die das gefordert haben, gemeinsam überlegen, wie es weitergeht und stehen an ihrer Seite.
Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.