Zeitgeschichte | 1986: Dreist gelogen
Fiktion und Realität liegen bei der „Aufarbeitung“ der DDR-Geschichte oft so dicht beieinander, dass sich der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk vor einiger Zeit veranlasst sah, eine „Aufarbeitung“ bisheriger DDR-Geschichtsaufarbeitung zu fordern. Auch müsse es einen Generationswechsel bei den „Aufarbeitern“ geben. Wie begründet das ist, zeigt der „Fall Diogo“. Beim Tod eines Vertragsarbeiters aus Mosambik im Jahr 1986 handelte es sich angeblich – wie etwa vom MDR kolportiert – um einen rassistisch motivierten Mord, der von den DDR-Behörden vertuscht worden sei. Sie hätten damit verhindern wollen, dass die internationalistische Staatsdoktrin und das Ansehen der DDR in Misskredit gerieten. Zudem habe man befürchtet, dass die Wertschätzung für solidarische Hilfe, die Staaten in Asien, Afrika und Lateinamerika erwiesen wurde, gelitten hätte, wäre die Wahrheit über den „Fall Diogo“ offenbart worden. Die antikolonialistische Haltung der DDR war der häufig neokolonialistisch ausgerichteten westdeutschen Politik stets ein Dorn im Auge. Keine neue Erkenntnis, die sich mit dem Verweis auf einen unterstellten rassistischen Mord gezielt beeinflussen lässt.
Bis 1989 erhielten in der DDR mehr als 20.000 junge Mosambikaner eine Berufsausbildung und waren danach ein willkommener Ausgleich für der Industrie fehlende Arbeitskräfte. Einen solchen Einsatz hatte die DDR-Führung zunächst abgelehnt, dann aber dem Wunsch der mosambikanischen Regierung entsprochen, deren Arbeitsmarkt zu entlasten und jungen Mosambikanern Berufserfahrung wie Verdienst zu ermöglichen, wenn sie in DDR-Betrieben arbeiteten. Dies blieb so, als in dem südostafrikanischen, von portugiesischer Kolonialmacht gezeichneten Land ein Bürgerkrieg ausbrach und verhinderte, eine Industrie aufzubauen, der die in der DDR ausgebildeten Kader von Nutzen sein konnten.
Außer Mosambikanern kamen in den 1980ern auch Vietnamesen, Angolaner und Kubaner als Vertragsarbeiter in die DDR. Das alles ist weitgehend erforscht, besonders von ausländischen Historikern, denen man ein ungetrübteres Auge auf diesen Teil ostdeutscher Zeitgeschichte zutrauen kann.
Wo es wenig bis nichts gibt, was man der DDR im Umgang mit diesen Gruppen von Ausländern ankreiden kann, werden „alternative Fakten“ bemüht. Demnach sollen die Vertragsarbeiter unterbezahlt gewesen und kaserniert worden sein. Auch durften sie vorgeblich keinen Kontakt zur DDR-Bevölkerung unterhalten, wenngleich von ihnen fast 2.000 Kinder gezeugt wurden, ihnen die Sozial- und Gesundheitsdienste ihrer Betriebe zur Verfügung standen. Ja, und dann gab es da noch Rassismus, einen institutionellen sogar. Dabei kann bis heute kein einziger Beleg dafür vorgelegt werden, dass es nur ein Gesetz gab, eine offizielle Rede gehalten, ein Gerichtsurteil gefällt wurde oder Bücher erschienen, die es erlauben würden, von Rassismus zu sprechen. Niemand bestreitet, dass es in der DDR rassistische Handlungen gab, doch wurden diese geahndet, sobald sie bekannt und aufgedeckt waren, was bis zum Prozess führen konnte. Allein ein Blick in die DDR-Verfassung wie das Strafgesetzbuch genügt, um sich von der dafür geltenden Staats- bzw. Rechtsordnung zu überzeugen.
Die für den MDR arbeitenden Journalisten Tom Fugmann und Christian Bergmann gingen anscheinend Mitte des vergangenen Jahrzehnts davon aus, nicht viel und nicht genau recherchieren zu müssen, um zu Geld und Sendeplatz bei einer öffentlich-rechtlichen Anstalt zu kommen. Ihr Thema war der junge Mosambikaner Manuel Diogo, der in der Nacht vom 29. zum 30. Juni 1986 während einer Eisenbahnfahrt zwischen dem Haltepunkt Borne (Mark) und dem Bahnhof Belzig ums Leben kam. Die dazu in verschiedenen Versionen produzierte Sendung wurde nicht nur beim MDR ausgestrahlt, sondern auch von anderen dritten Programmen übernommen. Der Film suggeriert, rechtsradikale Schläger seien am Tod von Diogo schuld gewesen.
Dabei hatte die polizeiliche Untersuchung seinerzeit ein Tötungsdelikt ausgeschlossen. Auch wurden keine Hinweise auf ultrarechte Schläger gefunden, die laut fiktiver Filmstory im Zug gewesen sein sollen. Ohnehin hatte 1986 niemand einen Mordvorwurf erhoben – weder die Kameraden Diogos noch die mosambikanische Botschaft in der DDR noch sonst jemand. Umso mehr taten das die für den MDR arbeitenden Journalisten, obwohl die Ermittlungen ergeben hatten, dass der Mosambikaner vor seinem Tod stark angetrunken war. Einige seiner Landsleute sagten aus, er sei im Zug eingeschlafen und habe nicht zum ersten Mal den Ausstieg verpasst. Als Diogo aus dem fahrenden Waggon sprang, wurde er vom entgegenkommenden Zug erfasst, überrollt und mitgeschleift, so das Ergebnis der kriminalpolizeilichen Untersuchung, die zu dem eindeutigen Urteil kam: „Hinweise auf (eine) Straftat liegen nicht vor.“
Was Fugmann/Bergmann nicht daran hinderte, das Gegenteil zu behaupten und dies mit dramatisierenden Trugbildern auszuschmücken. Die MDR-Produktion – sie wurde 2019 auch von 3sat gezeigt – hatte das Label vom „Unrechtsstaat“ zu bekräftigen: ein grausamer Fall und herzlose Bonzen, die unter den Tisch kehrten, was nicht ins antikolonialistische Selbstbild der DDR passte.
Auf die Ungereimtheiten, fehlenden Belege und in der Dokumentation enthaltenen Fiktionen angesprochen, reagierte der MDR mit einer Unterlassungsklage gegen den Autor. Ein sich zu Wort meldender Eisenbahner, der den Toten zwischen den Gleisen gefunden hatte, wurde abgewimmelt. Die Lügengeschichte bediente Politiker, die sich gern mit begrenztem Wissen über die DDR ins Zeug legen. Die hoffen, sich mit der Skandalisierung eines Unfalls profilieren zu können, wie die linke Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut. Sie konnte gerade noch daran gehindert werden, mit ihrer Mordstory an die Öffentlichkeit zu treten. Nicht mehr gestoppt werden konnte die brandenburgische Linken-Parlamentarierin Andrea Johlige, die verbreitete, Diogo sei „von Neonazis bestialisch ermordet“ worden, was „die DDR-Behörden vertuschten“. Die an sich leicht als unseriös erkennbare Darstellung und ideologisch geprägte Konnotation des Geschehens von 1986 im MDR-Film hinderten sie nicht, eine Kleine Anfrage an die brandenburgische Landesregierung zu stellen, quasi ein „Auftragswerk“, nannte sie es gegenüber dem Verfasser.
Die Staatsanwaltschaft Potsdam begann zu prüfen und stellte nach achtmonatiger Recherche Mitte März 2021 fest, dass es sich weder um Mord gehandelt habe, noch jemand versucht hätte, einen Mordfall zu vertuschen. Nunmehr sollten sich, so die Journalistin Anja Reich in einem Artikel in der Berliner Zeitung nach Bekanntwerden dieser Erkenntnis, alle diejenigen korrigieren, die sich trotz aller Hinweise auf politisch zweckdienliche Lügen taub stellten: der MDR, die Abgeordnete Johlige oder Autor Max Annas, der im Rowohlt Verlag einen Roman über den „Fall“ schrieb und dafür einen Preis erhielt. Annas hatte sich auf einen „wahren“ Vorgang berufen und somit aus dem Unglück des Mosambikaners Kapital geschlagen. Mancher sieht in einem solchen Verhalten Rassismus.
„Superspreader“ freilich waren zwei andere in den Skandal involvierte Personen. Zum einen der sich Historiker nennende Harry Waibel, der ohne Belege und genaue Kenntnis des Forschungsfeldes DDR-Geschichte glaubt, grassierenden Rassismus im ostdeutschen Staat nachweisen zu können, zum anderen ein Mosambikaner, der vom MDR interviewt worden war. Ibraimo Alberto, ein in der Bundesrepublik lebender ehemaliger Vertragsarbeiter, hatte in besagter TV-Dokumentation den „Mordhergang“ minutiös beschrieben. Später darauf angesprochen aber erklärt, nur von anderen gehört zu haben, dass… Inzwischen verweigert Alberto Interviews, denen er zuvor selten ausgewichen ist.
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