Hirschberg: Die Mehrheit sah in der Pandemie auch gute Seiten
Von Annette Steininger
Hirschberg. Wie wirkt sich ein vollkommener Stopp auf das Leben der Menschen aus? Zwei Soziologinnen haben gut 3000 Menschen zwischen 15 und 50 Jahren im Mai und Juni vergangenen Jahres befragen lassen und kamen dabei zu erstaunlichen Erkenntnissen. Die beiden Wissenschaftlerinnen, das sind die Hirschbergerin Claudia Schmiedeberg, die an Ludwig-Maximilans-Universität München tätig ist, und Carolin Thönnissen, die an der Universität zu Köln arbeitet.
Mit der Analyse haben sie im vergangenen Sommer begonnen, gleich als die Daten verfügbar waren. "Da wollten wir wissen, wie es den Menschen im ersten Lockdown ging, denn schon da war ja klar, dass die Maßnahmen Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben", erläutert Schmiedeberg. Es war aber wenig bekannt, welche Menschen wie stark betroffen waren. "Wichtig war uns auch, nicht nur die Belastung zu untersuchen, sondern auch mögliche positive Auswirkungen", betonen die beiden Wissenschaftlerinnen.
Schmiedeberg hatte beobachtet, dass Menschen mit eigentlich ähnlichen Bedingungen, also in ähnlicher familiärer und beruflicher Situation, sehr unterschiedlich stark belastet waren. "Das legte die Vermutung nahe, dass nicht nur diese Rahmenbedingungen eine Rolle spielen, sondern eben auch die Persönlichkeit", erläutert die Hirschbergerin.
Und so starten sie und Thönnissen die Studie. Die Daten stammen aus einer Zusatz-Online-Erhebung im Mai und Juni 2020, die an die Längsschnittstudie "pairfam" angegliedert ist. Die "pairfam"-Teilnehmer werden seit 2008 jährlich befragt und wurden durch eine Zufallsstichprobe ausgewählt, anders als in vielen anderen Studien, wie Thönnissen und Schmiedeberg hervorheben. "Das betonen wir deshalb, weil bei diesen ,Convenience-Samples’ häufig bestimmte Gruppen stark überrepräsentiert werden und man die Ergebnisse deshalb nicht auf die gesamte Bevölkerung verallgemeinern kann."
Die Teilnehmer wurden unter anderem gefragt, ob sie die Pandemie, wie sie sie bisher erlebt hatten, stark belastet hat, und ob sie dieser Zeit auch positive Seiten abgewinnen können. Diese Aussagen haben die Soziologinnen statistisch ausgewertet und untersucht, ob es einen Zusammenhang gibt mit den "Big 5", also fünf Persönlichkeitszügen, die in der Psychologie oft verwendet werden. Dazu gehören: Offenheit für Erfahrungen (Aufgeschlossenheit), Gewissenhaftigkeit (Perfektionismus), Extraversion (Geselligkeit), Verträglichkeit (Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie) und Neurotizismus (emotionale Labilität und Verletzlichkeit).
Außerdem haben die Soziologinnen die Lebenssituation betrachtet, also vor allem ob die Befragten Kinder haben oder in einer Partnerschaft leben, aber auch die berufliche Situation haben sie berücksichtigt. Die Studie ist nun in "Social Science and Medicine" erschienen, einer internationalen Fachzeitschrift für sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung.
Was die Soziologinnen schon zuvor vermutet haben, bewahrheitet sich bei ihrer Analyse: Es gibt einen Zusammenhang von Persönlichkeit und der Beurteilung der Auswirkungen der Pandemiesituation. "Wir bestätigen die Stress-Forschung, dass Neurotizismus mit einer höheren gefühlten Belastung einhergeht und ,Offenheit für Erfahrungen’ half, mit der radikal veränderten Situation umzugehen", erläutern die beiden Soziologinnen. Zudem spiele die Lebenssituation eine wichtige Rolle, aber eben wieder in Kombination mit der Persönlichkeit. "Extrovertierte Menschen ohne Partner waren in der ersten Welle besonders belastet", berichtetet Thönnissen. Warum genau diese Gruppe, erläutert Schmiedeberg: "Weil extrovertierte Menschen mit Partner immerhin ihren Partner hatten, um den für sie besonders wichtigen Austausch trotz der Kontaktbeschränkungen weiterhin zu leben." Introvertierte Menschen ohne Partner hätten dagegen gut damit umgehen können, ein paar Wochen lang – es ging ja um den ersten Lockdown – nicht so viele andere Menschen zu treffen.
Einen dritten Erkenntnisgewinn finden die beiden Soziologinnen besonders bedeutend: "Die Mehrheit der Befragten konnte zu diesem Zeitpunkt der Pandemie auch gute Seiten abgewinnen, man könnte sogar sagen, es war mehr weiß als schwarz, das heißt, die Befragten stimmten der positiven Aussage mehr zu als der negativen." Das sei inzwischen in Vergessenheit geraten beziehungsweise werde in den Medien nicht mehr thematisiert, sagen Schmiedeberg und Thönnissen bedauernd. "Aber wir finden dieses Ergebnis wichtig, weil wir das Gute aus der Pandemie für die Zukunft mitnehmen sollten." Letztlich hätten auch Menschen, die sich durch die Corona-Krise belastet fühlen, dem Ganzen noch gute Seiten abgewinnen können, etwa weil sie dadurch mehr Zeit für die Familie hatten. Insgesamt 61 Prozent äußerten sich entsprechend. Damit wollen sie aber nicht die Belastung der Menschen durch die Pandemie in Frage stellen, betonen die beiden.
Im Gegensatz zu anderen Untersuchungen, die stärker auf Befindlichkeitsindikatoren von Jugendlichen fokussieren, kommen die beiden Soziologinnen auch zu der Erkenntnis, dass die Jugendlichen bei der Frage nach der Belastung keine höheren Werte als die Erwachsenen angaben. "Ganz im Gegenteil, bei der subjektiven Bewertung, die wir uns ansehen, sind die Jugendlichen sogar weniger belastet als die älteren Befragten." Das könnte daran liegen, so Schmiedeberg und Thönnissen, dass die Jugendlichen die Schulschließungen kurzfristig als gar nicht so übel empfunden und sich auch weniger Sorgen über ihre Gesundheit gemacht hätten.
Dabei müsse man immer im Kopf behalten, dass dies zwei ganz spezielle Aussagen zur Belastung zu einem Zeitpunkt nach der ersten Welle sind, betonen die Soziologinnen. Die Pandemie sei ja dynamisch, so dass sich die Belastung der Menschen seither natürlich verändert habe. Wer sich mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen auskennt, weiß aber, dass es oft dauern kann, bis sich eine solche Studie veröffentlichen lässt. Sie geht durch die Hände von Gutachtern, die oft noch Änderungswünsche haben, weshalb sich die Publikation ziehen kann.
Nun bietet sich für die beiden Soziologinnen eine Folgestudie an, um zu sehen, wie die weiteren Lockdowns die Wahrnehmung der Menschen verändert haben. Man darf gespannt sein.