Zeitjung: So erging es zwei jungen Frauen 72 Stunden lang offline (Plus Video)
Von Tillmann Bauer
Mudau/Viernheim. Durchschnittlich entsperren wir 80 Mal täglich unser Handy. Wir schreiben Nachrichten, wir lesen Neuigkeiten, wir spielen Spiele, wir bezahlen Rechnungen, wir hören Musik, wir machen Fotos, wir schauen, was andere so machen oder ob’s morgen regnet, wir lassen uns erinnern, navigieren, erklären, wecken – unbestritten. Dass unsere Smartphones durch das Internet mittlerweile alles können und praktischerweise in die Hosentasche passen, macht vieles einfacher.
Doch was passiert eigentlich, wenn das Handy mal über mehrere Tage aus ist – und es auch sonst keinen Zugang ins Netz gibt? Fehlt etwas? Ist ein Offline-Leben heutzutage überhaupt möglich? Die RNZ bat zum Experiment. Annika (23) und Mareike (27) haben es gewagt, gingen für 72 Stunden komplett offline, schlossen das Handy sogar weg und schilderten uns täglich klassisch übers Festnetz ihre Erfahrungen. Dabei gab’s erstaunliche Erkenntnisse.
Die Kandidatinnen
Annika (23) posiert nicht grundlos für unser Foto mit ihrem Fußball. Die Studentin der Präventions- und Gesundheitsförderung kickt seit über 15 Jahren selbst gegen das runde Leder und weil sie das so gut macht, darf sie sich auch zurecht auf eine ziemlich große Aufgabe freuen: Für sie geht’s bald über den großen Teich nach Amerika, um sich dort nicht nur weiterzubilden, sondern auch in der Universitätsmannschaft Fußball zu spielen. Normalerweise nutzt sie mehrere Stunden täglich fleißig WhatsApp und Instagram. Sie lebt in Viernheim zusammen mit ihrem Vater. Der hat selbst kein Smartphone und sagte vor dem Experiment zu ihr: "Schön, dass Du nach zehn Jahren auch mal unseren Festnetz-Anschluss entdeckt hast."
Mareike (27) aus dem beschaulichen Mudau hält sich gerne in der Natur auf. Man könnte also meinen, das mache unser Experiment leichter, weil’s im Wald häufig keinen Internet-Empfang gibt. Das Wetter spielte zum Wandern – ein großes Hobby – aber nicht mit. Als Bürokauffrau in einem Autohaus ist für sie der Umgang mit einem Festnetz-Telefon nichts Neues, privat greift sie aber doch recht häufig zum Smartphone. Fünf Stunden durchschnittlich starrt sie täglich auf ihr Handy. Sie schreibt Nachrichten, hört Podcasts, schaut lustige Videos oder informiert sich über Gott und die Welt. Als sie unseren Aufruf auf Instagram sah, schickte sie ihn an ihre Mutter weiter. Die schrieb: "Das schaffst Du ja eh nicht." Der Ehrgeiz war geweckt.
Annika: Wie gute Vorbereitung und Abstand zu Social Media entschleunigt
> Tag 1: Der Auftakt war entspannter als gedacht. Normalerweise, so erzählt die Studentin, sei schon immer das erste, was sie morgens nach dem Aufwachen tue, einen Blick auf ihr Smartphone zu werfen. Was gibt’s Neues? Wer hat geschrieben? Was ist in der Nacht passiert? Das ging diesmal natürlich nicht. "Komischerweise hat mich das gar nicht gestört", sagt sie: "Meine Organisation hat mir ein gutes Gefühl gegeben." Heißt konkret: Die 23-Jährige hat sich vorbereitet, noch am Tag zuvor Freunde und Familie eingeweiht, ja, sogar ihr WhatsApp-Profilfoto mit einer Info-Nachricht getauscht. Da steht jetzt: "Bis Donnerstag nicht erreichbar." So hat sie die Zeit ohne Störung sinnvoll genutzt. Auf dem chaotischen Schreibtisch wurde Klarschiff gemacht und auch der Weg zum Sportgeschäft des Vertrauens problemlos gefunden.
Alles harmonisch also. Sie sagt: "Klar habe ich manchmal daran gedacht, jetzt mal durch Instagram zu scrollen. Aber nun merke ich erst einmal, wie unnötig das teilweise ist. Meist ist eh nichts Neues passiert." Gegen Nachmittag ging’s dann noch gemütlich zu Kaffee und Kuchen bei einer Bekannten. Da kam’s dann doch noch, das komische Gefühl: "Das ist schon ungewohnt, das Haus ohne Handy zu verlassen. Schließlich weiß man nie, wen man erreichen muss und was passieren kann." Gegen Abend streamt Annika gerne Serien – weil das aber bei unserem Experiment nicht erlaubt ist, musste sie sich eben mit dem Programm zufrieden geben, das der Fernseher bot. Lange Rede, kurzer Sinn: "Ich habe mir dann eben zwei Dokumentationen über Fleischkonsum und Hühnerhaltung angeschaut."
> Tag 2: Das Experiment zeigt erste Wirkungen. Annika wirkt extrem gelassen, als wir sie erreichen. "Ein paar Tage ohne geht wirklich", sagt sie: "Ich bin echt positiv überrascht." So hat sie die Stunden mit ihrer Familie verbracht und dabei gemerkt, wie aufmerksam sie ohne Ablenkung einem Gespräch eigentlich folgen kann. Für den Abend war dann Fußball-Training angesetzt, blöderweise aber auch Gewitter angesagt. Falls es kurzfristig noch abgesagt werde, vertraue sie auf den Anruf ihrer eingeweihten Freundinnen. Ach ja: Größere Entzugserscheinungen gab’s nicht. Nur beim Kochen fehlte kurz das Internet. Sie sagt: "Ich wollte einen Aufstrich machen. Normalerweise google ich dann schnell das Rezept." Diesmal wurde das klassische Kochbuch abgestaubt.
> Tag 3: "Ich bin vielleicht die falsche Testperson", sagt Annika und lacht: "Ich komme wirklich gut klar." Kurzum: Am dritten Tag gab’s nicht die geringste Komplikation, die hier erwähnenswert wäre. Klar, so erzählt Annika, freue sie sich auch, nun bald wieder das Smartphone anschalten zu dürfen, vor allem, weil sie dort organisatorische Dinge zwecks ihres Amerika-Aufenthalts erwartet. Aber so richtig vermisst sie ihr Handy nicht.
Manchmal, so Annika, hätte sie schon gern schnell eine Nachricht an ihre Freundin geschrieben. Das war’s aber – reine Luxusprobleme. Ansonsten lag sie im Garten, genoss die Sonne, besuchte einige Termine – und war sogar shoppen. "Und das alles ohne Handy", sagt sie: "Irgendwie gewöhnt man sich da schnell dran. Es geht also."
Mareike vermisst ihre Kamera, erlebt aber emotionale Momente
> Tag 1: Plötzlich war er weg, der Einkaufszettel. Mareike stand gerade vor der Obsttheke des Supermarkts, als sie realisierte, dass etwas fehlt. "Normalerweise", sagt sie: "tippe ich die Lebensmittel, die ich brauche, in mein Handy. Diesmal musste ich sie händisch aufschreiben." Sie lacht: "Blöderweise ist der Zettel irgendwie verschwunden." Gar nicht so einfach, wenn das Smartphone fehlt – Mareike musste also gleich zu Beginn des Experiments improvisieren. Verhungert ist sie glücklicherweise trotzdem nicht. "Es ist schon ein sehr komisches Gefühl, nicht erreichbar zu sein", sagt sie: "Irgendwie ist es immer wieder erschreckend, wie abhängig wir von unseren Handys sind." Sie selbst notiert dort normalerweise nicht nur fleißig ihre Einkaufsliste, sondern plant dort auch ihre Termine.
Mareike merkt schon nach wenigen Stunden: "Man nimmt die Welt anders wahr. Alles ist irgendwie entspannter." Apropos: Abends blieb auch der Fernseher aus, es wurde gelesen und davor – selbstverständlich – gut gekocht. Schließlich kommts bekanntlich weniger auf die Zutaten, vielmehr auf den Koch an, ob’s am Ende schmeckt.
> Tag 2: Der erste Satz unseres Gesprächs war entscheidend. Man gewöhne sich an ein Leben ohne Handy, berichtet Mareike. Ihr fehle nichts. Nur mittags kam etwas Wehmut auf. Als sie mit Arbeitskollegen während der Pause am Neckar spazierte, entdeckte sie kleine, süße Entenbabys am Ufer. "Ich wollte sie unbedingt fotografieren", sagt sie. Das macht sie schließlich gerne in ihrer Freizeit: "Ging nicht – schade, das wäre sicher auch ein gutes Bild für die RNZ geworden."
Einen positiven Aspekt gab’s trotzdem: "So konnte ich den Moment einfach noch mehr genießen und ihn ganz anders wahrnehmen." Es sei wie bei einem Konzert, das die Menschen normalerweise nur über ihr Handy filmen und dabei vergessen, den eigentlichen Moment zu leben. Ach ja: Die Mama verkündete unserer Teilnehmerin am Abend offline noch eine frohe Kunde: Mareikes Cousine ist Mutter geworden. Sie strahlt: "Ich hatte gehofft, dass es nicht während des Experiments passiert. So war es aber nochmal speziell, die frohe Nachricht persönlich mitgeteilt zu bekommen."
> Tag 3: Die Erkenntnis des Tages – Grillen macht auch Spaß, ohne das Essen auf Instagram zu posten! Zumindest in den letzten Stunden unseres Experimentes meinte es das Wetter gut mit Mareike. Nach dem Arbeitstag wurden gemeinsam mit der Familie die Steaks auf den Grill geworfen, danach war sogar noch eine kleine Fahrradtour geplant. "Generell konnte man so viel besser miteinander erzählen", sagt sie. So war am Vorabend noch ein guter Freund bei ihr zu Besuch, der – vorbildlicherweise – für diese Zeit auch sein Handy weggelegt hat, getreu dem Motto "Geteiltes Leid ist halbes Leid".
Aber im Gegenteil: Die beiden genossen die strahlungsfreie Zeit vielmehr. Als wir das letzte Mal auf Mareikes Festnetz-Apparat durchklingeln, klingt sie nachdenklich. Kurz zuvor hatte sie sich etwas Zeit genommen, um zu reflektieren und ihre Erkenntnisse zu Papier zu bringen. "Vor und nach dem Schlafen nicht direkt auf das Handy zu schauen, hat mich wesentlich entspannter gemacht", sagt sie: "Das werde ich so weitermachen."
Die Bilanz
Für Annika ist die Sache klar. Sie sagt: "Drei Tage ohne Internet sind entspannt zu verkraften. Für immer geht’s aber auf keinen Fall." Sie hat deutlich gemerkt, dass sie entspannter und gelassener durchs Leben geht, wenn sie nicht ständig ihr Smartphone mit sich herumträgt, weil sie schlicht nicht immer erreichbar sein muss. Das tat ihr gut.
Mareike sieht das ähnlich. Sie meint: "Ich hatte viel mehr Zeit für mich. Ich habe mich deutlich mehr bewegt – klar ist man mit einem Handy deutlich unabhängiger. Aber ich habe gemerkt: Das Smartphone ist nicht das wichtigste auf der Welt."
Für Annika ist aber auch klar: "Es hat eben viel ausgemacht, dass ich allen wichtigen Menschen vorher Bescheid gegeben habe." So konnte sie Dinge vorplanen und alle Menschen informieren, ohne dabei Angst zu haben, dass sich jemand Sorgen macht. Einfach aus dem Nichts mehrere Tage nicht online zu gehen, ohne jemanden vorher in Kenntnis zu setzen, stelle sie sich schwer vor.
Sie sagt: "Irgendwann würden die Leute sicher bei mir vorbeifahren, an der Haustür klingeln und nachfragen, ob alles in Ordnung ist. Ohne Vorbereitung würde es mich glaube ich auch extrem stressen. Weil man eben dann nicht diese Sicherheit hat, dass alles geregelt ist."
Das wäre also mehr Spannung als Entspannung. Eigentlich aber eine interessante Idee für ein zweites Experiment in der Zukunft – dann als extreme Variante!