Meisenthal: Im Elsass wurden geschmückte Tannen vor 500 Jahren erstmals erwähnt
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Von Volker Knopf
Meisenthal. Das Elsass ist so etwas wie das Weihnachtswohlfühlland für den Besucher, der Tradition und Romantik schätzt. Festlich dekorierte Städte und Dörfer, illuminierte Fachwerkhäuser, stattliche Tannen auf den Marktplätzen und dazu Schmackhaftes wie Anisbreddle, Mannele, vin rouge oder Lebkuchen. Nirgendwo in Frankreich wird "Noel" so zelebriert wie im Osten der Republik – auch wenn aufgrund der Pandemie die Weihnachtsmärkte westlich des Rheins deutlich spärlicher besucht waren als in den Vorjahren. Speziell das Elsass steht für weihnachtliche Bräuche par excellence. Nicht ohne Grund.
In Sélestat südlich von Straßburg beispielsweise rühmt man sich eines besonderen Dokuments. Hier in der Humanistischen Bibliothek, die einst von dem Universal-Gelehrten Beatus Rhenanus gegründet wurde, ist der Christbaum erstmalig überhaupt urkundlich erwähnt. Archivarin Justine Fuhrer deutet nicht ohne Stolz auf die Vitrine. "Das ist das älteste Schriftstück, in dem vom Weihnachtsbaum die Rede ist. Es ist ein Rechnungsbuch, in dem geschrieben steht, dass die Leute auf die ’Meyen’ im Gemeindewald aufpassen müssen und datiert vom 21. Dezember 1521.
Dies ist weltweit der erste Eintrag für einen Weihnachtsbaum – vor 500 Jahren." Im Altdeutschen bedeute "Meyen" Festbaum, der aus Ehrfurcht vor der sich erneuernden Natur jedes Jahr geschmückt wird. Es handle sich dabei um einen heidnischen Brauch, der später christianisiert wurde. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts ersetzte die Bevölkerung die "heidnischen Zweige" durch junge Tannenbäume. Im 17. Jahrhundert wurden die Bäume fortan mit Oblaten, Nüssen und Äpfeln geschmückt. Nach einer Dürre nahmen die Menschen aus Not Weihnachtskugeln statt Früchte. In der Glashütte von Meisenthal in den Nordvogesen werden sie heute noch mundgeblasen.
Lucien Fleck, Gründer des Glasmuseums im Ort, kennt die Historie gut: Mitte des 19. Jahrhunderts habe eine furchtbare Trockenheit dafür gesorgt, dass das Obst in den Nordvogesen sehr knapp wurde. Dann kamen die Glasbläser der Glashütte auf jene berühmte Idee. Sie begannen, Kugeln aus hochwertigem Glas zu produzieren. "Und voilà, die Weihnachtskugel aus Meisenthal war geboren", erklärt Fleck. Der Ort wurde in ganz Frankreich zum Synonym für Weihnachtsbaumschmuck aus Kristall und Glas.
Seit Jahren erlebt die mundgeblasene, so schillernd leuchtende Weihnachtskugel aus den Nordvogesen eine Renaissance. Jann Gruenenberger, Leiter des Zentrums für Glasmacherkunst Meisenthal, bestätigt das: "Lothringen und Elsass haben eine lange industrielle Kultur. Man könnte auch sagen, hier sind die letzten Glasbläser, die handgefertigte Weihnachtskugeln herstellen." Von einer Empore aus können die Besucher den Glasbläsern bei ihrer schweißtreibenden Tätigkeit zuschauen, die ruhig und hoch konzentriert abläuft. Schnell der Kugel noch eine Krone aufgesetzt, schon kommt bereits das nächste funkelnde Oval aus dem Ofen. Anmutig schimmert das tiefrote Kunstwerk in warmen Farben. Unterdessen wird schon der nächste Stab erhitzt. In der Manufaktur kann man Weihnachtskugeln in allerlei Formen und Farben erwerben.
"Der Christbaum, die Beleuchtung und die Weihnachtskugeln sind ein wichtiger Brauch, sie geben dem Fest seine besondere Atmosphäre", fügt Bibliothekarin und Archivarin Justine Fuhrer hinzu. Rund 30.000 Besucher (vor Corona) besuchen die Humanistische Bibliothek pro Jahr, die zum Unesco-Weltkulturerbe zählt. Mancher inspiziert dann auch das Dokument vom Weihnachtsbaum. "Viele machen auch einen Abstecher nach Straßburg zum ältesten Christkindlesmarkt der Welt von 1570. Für den Tourismus ist die Weihnachtstradition in der Region sehr wichtig. Auch wenn er dieses Jahr unter der Covid-19-Krise leidet", berichtet die Französin, die ursprünglich aus Colmar stammt.
Allein die Humanistische Bibliothek, die von 2014 bis 2018 für 14 Millionen Euro aufwendig saniert wurde, ist schon eine Reise wert. Sie gilt als wahre Schatzkammer der Renaissance am Oberrhein. Das im neoromanischen Stil errichtete Gebäude von 1840 beherbergt 154 mittelalterliche Handschriften und mehr als 1600 Drucke aus dem 15. und 16. Jahrhundert, zudem 670 Werke von Beatus Rhenanus.
Der Elsässer war begeistert von den Ideen Luthers und trug mit seinen Publikationen zu deren Verbreitung bei. Zu seinen Hauptwerken zählt die Geschichte Deutschlands (Rerum Germanicarum Libri Tres). In zwei Büchern beschreibt er die germanischen Stämme, ihre Gebiete und ihre Lebensweise. Zu den wertvollsten Bänden der Bibliothek gehört ein liturgisches Lesebuch aus dem 7. Jahrhundert (das älteste aufbewahrte Buch im Elsass).
Direkt vis-à-vis der Bibliothek in Sélestat befindet sich das Maison du pain d’Alsace, das Bäckerei-Museum. Die Boulangerie im Erdgeschoss verwandelt sich im Advent regelmäßig zur Weihnachtsbäckerei. Und was schiebt der Bäcker in den Ofen? Exactement! Einen Weihnachtsbaum aus Teig. Was würde besser zum 500-jährigen Jubiläum der urkundlichen Ersterwähnung passen?