J. Peirano: Der geheime Code der Liebe: Meine Eltern haben mich misshandelt und weggeschickt, als ich ein kleines Kind war
Wie jeder Mensch wollte Maricel nur von ihren Eltern geliebt werden. Stattdessen schickten sie sie in ein ihr fremdes Land. Und misshandelten sie mit Schlägen und Worten. Lässt sich der seelische Schaden noch überwinden?
Liebe Frau Peirano,
ich bin eine Studentin aus den Philippinen und seit drei Jahren in Hamburg. Ich komme nicht mit mir zurecht, ich gerate immer an die falschen Männer und habe große Angst, etwas falsch zu machen. Ich finde mich hässlich und dumm und arbeite mehr, als es mir gut tut.
Kann es sein, dass es an meiner Lebensgeschichte liegt? Meine Eltern sind nach Holland gekommen, als ich zwei Jahre alt war. Ich wurde als Kind von meinen Eltern streng erzogen und geschlagen. Als ich sechs war, wurde meine kleine Schwester geboren, und meine Eltern haben mich auf die Philippinen geschickt zu meinen Großeltern und der Familie. Ich wurde viel geschlagen, eingesperrt und angeschrien. Das ist in Asien oft so. Aber meine Familie war besonders hart zu mir.
Meine Eltern haben mir nie gesagt, warum sie mich weggeschickt haben. Sie wollten nach ein paar Jahren selbst wieder auf den Philippinen leben, aber das haben sie nie getan. Wir hatten wenig Kontakt, nur ein Telefonat jeden Monat.Peirano Januar 2 21 19.47
Ich musste immer überall die Beste sein, damit ich geliebt wurde. Mir wurden andere Kinder vor Augen gehalten, die besser in der Schule waren, besser Klavier spielen konnten, besser im Sport waren. Aber meine Familie hat mich nicht unterstützt. Ich wurde oft erst Stunden später in der Schule abgeholt. Oder bekam kein Geld für Mittagessen in der Schule oder Bücher, obwohl meine Familie genug Geld hatte. Ich habe mich oft geschämt vor der anderen Kindern.
Meine Eltern sind jetzt auch sehr hart zu mir und erwarten, dass ich so wenig wie möglich an Unterhalt brauche. Sie werfen mir vor, dass ich zu viel Geld ausgebe, obwohl ich sehr sparsam bin, und sie erwarten (wie viele asiatische Eltern), dass ich ihnen nach meinem Studium alles zurück zahle.
Ich stehe sehr unter Druck damit und bin auch sehr mutlos. Ich weiß nicht, wie ich all diesen Erwartungen gerecht werden soll.
Viele Grüße
Maricel G.
Liebe Maricel G.,
es hat mich sehr berührt und auch traurig gemacht, was Sie über Ihre Kindheit geschrieben haben. Es klingt so, als wenn Sie viele Ereignisse erlebt haben, die Ihr Selbstwertgefühl schwer beschädigt haben, und als wenn Sie heute darunter leiden. Das kann ich gut verstehen! Es ist nahezu unmöglich, solche Erfahrungen ohne Therapie hinter sich zu lassen.
Eigentlich ist es die Aufgabe der Eltern, Kindern zu zeigen, dass sie in ihrem Leben willkommen sind, dass sie liebenswert sind. Eltern sollten ihre Kinder vor Gefahren beschützen und ihnen helfen, im Leben zurecht zu kommen.
Ihre Eltern haben Ihnen durch das Verschicken in ein weit entferntes, fremdes Land im Alter von sechs Jahren eine große psychische Belastung zugefügt. Kinder brauchen den Schutz der Eltern, um sich in fremden Umgebungen zurecht zu finden und dort Fuß zu fassen. Außerdem brauchen Kinder die Bindung an die Eltern, um sich geborgen und sicher zu fühlen und Vertrauen zu entwickeln. Die Trennung von Ihren Eltern und Verschickung muss Ihr Vertrauen in Menschen generell erschüttert haben. Bio Julia Peirano
Zudem haben Sie anscheinend bis heute den Grund dafür nicht verstanden. Wenn Eltern zum Beispiel sterben oder schwer krank sind und sich deshalb nicht kümmern können, kann sich das Kind sagen: "Meine Eltern lieben mich, aber sie können sich nicht um mich kümmern." Sie verlieren nicht das Vertrauen in die engsten Bezugspersonen, sondern möglicherweise in das Schicksal (weil es die Eltern krank werden oder sogar sterben ließ). Wenn die Eltern sich aber ohne verständlichen Grund trennen und ihr Kind wegschicken, aber für ein Geschwisterkind (sogar ein später geborenes) bei sich gehalten, kann das im kindlichen Denkmuster nur bedeuten: "Meine Eltern haben mich weggegeben, weil sie mich nicht wollen. Vielleicht stimmt etwas mit mir nicht."
Ihre Eltern haben es zugelassen, dass Sie bei Familienangehörigen gelebt haben, die Sie angeschrieben, entwertet und geschlagen haben. Und ihre Eltern haben Sie selbst geschlagen, auch das ist traumatisch. Das bedeutet, dass Sie schon früh die Erfahrung gemacht haben, nicht beschützt zu werden und nicht sicher zu sein. Das ist ein wiederkehrendes und tief sitzendes traumatisches Ereignis.
Letztlich haben Sie in Ihrer Kindheit ziemlich durchgängig das Gefühl vermittelt bekommen, lästig und minderwertig zu sein. Das bedeutet nicht, dass sie in Wirklichkeit auch minderwertig sind! Aber wir Menschen lernen durch die Spiegelung der Menschen um uns herum, gerade um frühe Spiegelungen. Ich habe mal fasziniert einen (zugegebenermaßen entzückenden) türkischen Zweijährigen mit seiner Familie beobachtet. Er hatte keine ruhige Minute, weil ständig eine der vielen Tanten, Cousinen und Schwestern ihn auf den Arm nehmen, füttern und verliebt ansehen wollte. Und dann wieder zurück zur Mama, und von Arm zu Arm. Ich nehme mal an, dass dieser Junge als erwachsener Mann kein Problem mit einem zu niedrigen Selbstwertgefühl haben wird, sondern sich sicher ist, dass er liebenswert ist.
Vergleichen Sie das bitte mal mit Ihrer eigenen Geschichte - das ist sehr traurig. Aber Selbstmitgefühl (nicht Selbstmitleid) ist auch etwas, das man durch die Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte lernen kann und das sehr hilfreich ist.
Ich schätze es so ein, dass Sie eine längere Psychotherapie benötigen, um herauszufinden und nachzufühlen, was Ihnen als Kind an traumatischen und selbstwertschädigenden Ereignissen widerfahren ist. In einer vertrauensvollen Therapie können Sie lernen, sich selbst zuzuhören und Ihre innere Kritikerin zu erkennen, die wahrscheinlich täglich wie ein Papagei auf Ihrer Schulter sitzt und Ihnen zuflüstert: Du bist nichts wert. Ich würde Ihnen eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie oder eine Verhaltenstherapie mit Schwerpunkt Schematherapie oder Traumatherapie empfehlen.
Nehmen Sie sich Zeit, um diese belastende Vergangenheit aufzuarbeiten, sonst wiederholen Sie unbewusst die Muster, verlassen und schlecht behandelt zu werden. Es geht auch darum, Beziehung so zu gestalten, wie es gut für Sie ist. Viele Menschen mit traumatischer Lebensgeschichte haben Probleme damit, Grenzen zu setzen (den Erwartungen Ihrer Eltern gegenüber) und suchen sich stattdessen Menschen, die Sie wieder ausnutzen, herabwürdigen oder verlassen und wiederholen so das Trauma.
Ich hoffe, dass Sie eine Therapeutin oder einen Therapeuten finden, bei dem/der Sie gut aufgehoben sind, und dass es Ihnen gelingt, diese destruktiven Erfahrungen zu verarbeiten.
Herzliche Grüße
Julia Peirano