London | Klima-Protest in der National Gallery: Wir kleben am Öl
Vom Heuwagen zum Klimaprotest ist es nicht weit. Und zufällig kann die Verbindung auch nicht sein: Anfang des Monats klebten Klimaschutz-Aktivist*innen in der Londoner National Gallery auf John Constables (1776 – 1837) Ölgemälde The Hay Wain ihre als Tryptichon angelegte Aktualisierung des Landschaftsbilds – Flugzeuge, Asphalt, Schrott – und ihre eigenen Hände an den opulenten Rahmen.
Die Aktivist*innen gruppieren sich unter dem Namen „Just Stop Oil“. Ganz wie die in Deutschland aktive „Letzte Generation“ zaubern sie hauptberuflichen Pro-Verbrenner-Aktivisten wie Ulf Poschardt oder manch gedankenlosem SUV-Pendler die Zornesröte ins Gesicht. Am Vortag setzten sie sich in Silverstone auf die Rennstrecke.
Wenn man in Raum 34 der National Gallery hinhörte, konnte man zwar meinen, dass der zentrale Gegensatz der kurzen „What good then is art?“-Rede besser vor das Starterfeld der Formel 1 gepasst hätte – denn was sie als Gegensatz zwischen Kunst und Klimakatastrophe oder Hunger/Vertreibung/Tod und Kunstgenuss vortrugen, blieb ein wenig blass. Aber Constable ist der richtige Gewährsmann, der Heuwagen das richtige Bild.
Bei seiner ersten Ausstellung 1821 trug es noch den Titel Landscape: Noon und wurde eher spärlich beklatscht. Weder als Einzelwerk noch als Teil der großformatigen Serie hatte es in Großbritannien Erfolg. Constable wurde zwar 1829 in die Royal Academy of Arts aufgenommen, aber nie besonders geschätzt. Heute ist der Heuwagen eines der bekanntesten britischen Kunstwerke.
Das breite Panorama vermittelt eine subtile Kritik an der Industrialisierung, fühlbares Desinteresse an damaligen Kunst-Moden und das Problem, seiner Zeit voraus zu sein: Das Mittagslicht über dem Flüsschen Stour und der ländlichen Szene ist nicht in den erhabenen Ton getaucht, mit dem die Landschaftsmalerei göttliche Gegenwart markierte. Hier sind keine antiken Säulen verstreut, keine Heldenfiguren rasten. Bei Constable wird gearbeitet, mit der Hand und im Feld, mit der Wäsche am Fluss. Der Maler entwirft einen nüchternen Blick auf den banalen Alltag, der Heuwagen steht für ein paar Momente im Wasser, sonst schrumpfen die Holzräder in der Sommerhitze und drohen ihre Eisenbeschläge zu verlieren. Auch den Pferden tut Kühlung gut.
Eine Kulturlandschaft umspielt mit lieblichen Formen die geraden Kanten von Wagen, Steg und dem Cottage von Willy Lott. Es geht aber auch um etwas, das wir nicht sehen: Gewissermaßen in unserem Rücken gräbt sich die Industrialisierung durch die Welt, entwertet die Landarbeit, treibt Menschen in Städte und Mietskasernen. Schornsteine schießen in die Höhe, Abwässer stinken, die Luft ist schlecht, Menschen werden krank. Und auch wenn sich erst mit der Industriemoderne der Begriff der Schönheit auf die Natur ausweitet, liegt darin eine Melancholie des Untergangs: Wir blicken auf den Ausschnitt eines entbehrungsreichen Lebens, das bald verschwunden sein wird. Zeitgenoss*innen schauten darauf mit dem Blick von Stadtbewohner*innen: Natur und Naturerfahrungen rücken immer weiter weg, bald wird „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘“, notieren Karl Marx und Friedrich Engels ein Vierteljahrhundert später.
Gegenwart, die vergeht
Und so transportierte Constables nostalgische Perspektive – der schattige Vordergrund und die im Sonnenschein geruhsam vorangehende Arbeit, Pause am Fluss, Stille – eine fühlbare Trauer um die Dinge, die wir zerstören – das Werk wurde in London ausgestellt, die rastlose Industriestadt mit brutaler Ausbeutung war der Gegenpol zur Szene in Öl.
Sich an diese Sehnsuchtslandschaft zu kleben, hinter der Absperrung der National Gallery zu kauern, auch die Neuinterpretation der Bildelemente selbst zu wagen, bedeutet, die heutige Kritik an Moderne und Verschwendung von Ressourcen so zu komponieren, dass sie John Constables Weitsicht in den Blick rückt. Der hatte sich eingehend mit Wetter und Wolkenformationen beschäftigt, belebte die Landschaftsmalerei neu – auch als Erinnerung an eine Gegenwart, die eben verging.
Nebenan wirkte eine Geste schwächer: Protestierer*innen klebten sich auch an Das letzte Abendmahl – Giovanni Pietro Rizzolis Kopie des Wandgemäldes von Leonardo da Vinci aus dem Mailänder Dominikaner-Speisesaal. Die Wahl des Bildes wirkt oberflächlicher. Die festgeklebten Hände formen mal eine zärtliche Geste, mal wirken sie unbequem verrenkt. Immerhin haben sie auf den Sockel einen recht britischen Witz gesprüht: „No new oil“.
In jedem Fall aber haben sie recht. Und ihre Gesten haben auch etwas Tragisches: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind dummerweise nur eine Stimme im politischen Raum, das französische Interesse, marode Atommeiler zu finanzieren, Naturkonservatismus, der überall Landschaft vor Entwertung durch Windräder retten will, sind andere. Markus Söder eine weitere.
Der Lebensstil, mal eben nach London zu jetten, um die National Gallery zu besuchen, wird inzwischen beim Kunstbourgeoisie-Abendessen zwar kritischer gesehen, aber für die Grundlagen der Ressourcenvernichtung durch die Industrie sorgen wir weiter selbst: mit unserem Konsum, unserem Wahlverhalten, unserem Mangel an Protest.
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