Kreis Olpe: Eingesperrte Achtjährige in Attendorn – das ist über den Fall bekannt
Fast sein gesamtes Leben lang soll ein achtjähriges Mädchen in Attendorn von seiner Mutter und seinen Großeltern zu Hause eingesperrt worden sein. Viele Fragen sind in dem erschreckenden Fall noch ungeklärt – auch gegen das Jugendamt wird ermittelt.
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Vor zwei Jahren und vor einem Jahr gingen beim Jugendamt im Kreis Olpe zwei anonyme Hinweise ein. Doch erst in diesem Sommer kam Bewegung in den Fall. Nach Darstellung des Kreises Olpe hatte ein Ehepaar, das keine direkte Verbindung zur Familie hatte, im Juli Hinweise von Freunden weitergegeben, die sicher seien, dass das Kind im Haus der Großeltern gefangen gehalten werde. Dann sei es zügig gegangen. Man habe am 14. Juli das Bundesamt für Justiz eingeschaltet, dieses wiederum die Behörden in Italien.
Am 12. September kam dann die verblüffende Mail ans Jugendamt: Die Mutter wohnte nie in Italien. Man habe am nächsten Tag die Polizei alarmiert. Am 23. September kam das Kind nach einer Hausdurchsuchung frei. "Das Kind kam den Beamten wohl auch entgegen, hat sich mit denen unterhalten", sagte Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss im RTL-Interview.
Der Fachbereichsleiter des Jugendamts, Michael Färber, sagte, man sei den Hinweisen sofort nachgegangen. Mitarbeiter der Behörde sollen die Großeltern noch an der Haustür abgewimmelt haben. "Dort wurde nochmal sehr glaubhaft versichert: Nein, Tochter und Enkelkind halten sich in Italien auf. Wir hatten also keine konkreten Anhaltspunkte, um an der Aussage zu zweifeln." Und damit auch keine rechtliche Möglichkeit, das Haus zu betreten – das sei auch die damalige Einschätzung der Polizei gewesen.
Die Mutter hatte sich im Sommer 2015 aus Attendorn abgemeldet und als neuen Wohnort für sie und ihre Tochter eine Adresse in Italien angegeben. Der Kindsvater aber will die Frau zweimal in Attendorn gesehen haben. "Sie soll eine Burka getragen haben, vermutlich, um unerkannt zu bleiben", berichtet RTL-Reporter Klaus Felder.
Die Menschen in Attendorn sind schockiert. "Ich habe letzte Woche noch mit dem Opa gesprochen", sagt Nachbar Hubert Bender. "Aber was hinter der Haustür war, das wusste man nicht." Entschuldigen könne man die Tat nicht, dafür habe er keinerlei Verständnis.
Eingesperrtes Mädchen in Attendorn: Ermittlungen auch gegen Jugendamt
Gegen die Mutter des Kindes und die Großeltern ermittelt die Staatsanwaltschaft in Siegen wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Sie geht davon aus, dass sie dem Mädchen fast sieben Jahre lang nicht ermöglicht hatten, "am Leben teilzunehmen" – nicht an Kita, Schule oder am Spiel mit anderen Kindern. Die Ermittlungen laufen, sagte Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss. Die Hintergründe seien noch unklar. Mutter und Großeltern schweigen bisher, Zeugen wurden weiter befragt. Sollten sie verurteilt werden, droht ihnen eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren.STERN PAID Vermisste Hilal Ercan 18.53
Die Ermittlungen erstrecken sich aber auch auf das Jugendamt. "Wir müssen auch beleuchten, ob das Jugendamt alles Notwendige getan hat, um den Fall aufzudecken", erläuterte der Oberstaatsanwalt. Es stelle sich "zwangsläufig die Frage, ob das Kind nicht früher hätte gefunden werden können." Normalerweise wisse man auf dem Dorf schnell, wer bei den Nachbarn ein- und ausgehe. Es sei erstaunlich, dass das Kind so viele Jahre nicht gesehen worden sei – und zugleich ein Hinweis darauf, dass die Beschuldigten "sehr geheim und sehr sorgfältig" vorgegangen seien.
Die Motivlage sei offen, doch alles deutet darauf hin, dass die Mutter verhindern wollte, dass ihre Tochter Umgang mit dem Vater hat, schilderte Färber vom Jugendamt. Der habe sich ans Familiengericht gewandt, das 2016 das Sorgerecht für beide Elternteile bekräftigte. Beim Gerichtsentscheid sei als Wohnort von Mutter und Tochter eine italienische Adresse angegeben gewesen, die sich später als falsch herausstellen sollte.
Pflegefamilie kümmert sich jetzt um Achtjährige aus Attendorn
Wie kann es einem Kind gehen, das in den ersten, prägenden Lebensjahren eingesperrt in vier Wänden lebte, nur Umgang mit drei Erwachsenen hatte? Hinweise auf eine körperliche Misshandlung oder Unterernährung gab es bei seiner Befreiung nicht. "Für das Kind steht jetzt die Welt Kopf. Es wird sich fühlen wie auf einem anderen Planeten", meint Nicole Vergin vom Kinderschutzbund NRW. Grundbedürfnisse des Mädchens und grundlegende Kinderrechte auf Bildung, Spielen oder soziale Kontakte seien missachtet worden. Das werde Auswirkungen auf die mentale, psychische und motorische Entwicklung haben.
Die Achtjährige ist in einer Pflegefamilie untergebracht und müsse zunächst seelisch stabilisiert werden, mahnte Sozialpädagogin Sabine Müller-Kolodziej. Auch wenn die Beschuldigten zur Verantwortung gezogen werden, solle dem Mädchen ein begleiteter Umgang mit ihnen ermöglicht werden, um es nicht zu entwurzeln. Das Kind kann nach Angaben des Jugendamts Lesen und Rechnen, hat aber Probleme bei – für es bisher nicht – Alltäglichem wie Treppensteigen. Der "Sauerlandkurier" schrieb, sie habe nie eine Wiese betreten oder einen Wald gesehen.Bedürfnisse Kinder 18.38
Auch der NRW-Landtag wird sich bald mit den Vorgängen befassen: Die SPD-Opposition will das Agieren der Behörden durchleuchten. Die Frage nach dem Vater des Mädchens wird gestellt: Zwischen den Eltern habe wohl schon vor der Geburt des Kindes keine Beziehung bestanden. Zentral sei nun vor allem die behutsame Begleitung des Mädchen auf dem Weg in ein normales Leben, so der Kinderschutzbund.