Vom Ausnahmezustand an den Grenzen
Tatjana Baumann hat an der russisch-polnischen Grenze kürzlich „Action“ erlebt, wie sie das nennt. Die russlanddeutsche Pädagogin lebt seit 2009 in Deutschland, ursprünglich stammt sie aus Ischewsk, einer Großstadt zwischen Moskau und dem Ural. Dorthin ging es für die fünfköpfige Familie diesen Sommer. Um kostspielige und umständliche Flugrouten zu vermeiden, buchten sie einen Transfer per Kleinbus von Rheinland-Pfalz in die russische Exklave Kaliningrad, von wo aus zahlreiche Städte in Russland angeflogen werden.
24 Stunden für eine Grenzüberquerung
Auf dem Hinweg war die Grenze zwischen Polen und Russland in Grzechotki-Mamonowo nach weniger als fünf Stunden passiert, was abschreckend genug klingen mag, aber heutzutage eher ein Durchschnittswert ist. Die Rückreise passte mit ihren Extremen dann ins Bild von einem Ausnahme- als Dauerzustand. Sage und schreibe 24 Stunden standen die Baumanns an der Grenze. Erst nach 16 Stunden war der Kleinbus überhaupt bis zur russischen Grenzstation vorgerückt. Dazu kamen zwei bis drei Stunden Abfertigung auf beiden Seiten und mehrere Stunden Wartezeit in der neutralen Zone dazwischen. Von zumutbaren Zuständen kann da wohl kaum die Rede sein.
Nach Tatjana Baumanns Eindruck hielten vor allem die peniblen Kontrollen der polnischen Beamten den Verkehr auf. Sie sagt, sie habe selbst beobachtet, wie stichprobenartig Gepäck durchsucht wurde und Leute sich auch von Lebensmitteln aus dem eigenen Garten trennen mussten, um nicht zurückgeschickt zu werden.
Wie Tatjana der MDZ die Vorgänge schildert, ist dabei betont sachlich, sie dramatisiert nicht zusätzlich, was ohnehin dramatisch ist, scheint sich eher zu wundern, wie so etwas eigentlich sein kann. Und sie sagt auch: „Was einen vor Ort erwartet, ist schwierig vorherzusehen. Das kann vom Wochentag abhängen oder auch von der Uhrzeit. Auf dem Hinweg standen Autos vor uns 17 Stunden an der Grenze, während wir unterwegs die Nachricht bekamen, sie sei jetzt frei. Bis wir schließlich dort anlangten, hatte sich schon wieder eine Schlange gebildet.“
Man kann auch Glück haben
Tatsächlich fallen die Erfahrungsberichte von den russischen Landgrenzen zur EU unterschiedlich aus. Für MDZ-Redakteur Alexej Karelski und seine Familie waren die Aus- und Einreise über den russisch-estnischen Grenzübergang Schumilkino-Luhamaa als Fußgänger in den vergangenen Wochen weitgehend unproblematisch. Teils nahmen die Kontrollen insgesamt weniger als eine Stunde in Anspruch.
Solche Glückspilze soll es auch am populären Grenzübergang Narva-Iwangorod gegeben haben, der ungefähr auf halber Strecke zwischen dem estnischen Tallinn und dem russischen St. Petersburg liegt. Doch es war, wie so oft, eine Lotterie. In der Facebook*-Gruppe „Grenze Narva Iwangorod“ sind die Leidensgeschichten stark in der Überzahl. Zu Fotos von langen Schlangen auf beiden Seiten des Grenzübergangs am malerischen Ufer der Narva klagen die Menschen über „Schikane“.
Estnische Grenzer im Blickpunkt
Die Schlagzeilen des Sommers gehörten dabei insbesondere dem Andrang in Narva, wo der Rückstau der Grenzgänger über den halben Petersplatz reichte. Waren längere Wartezeiten in Iwangorod bis dahin das größere Übel gewesen, richtete sich die Aufmerksamkeit nun auf die estnischen Beamten. Der Grenzübergang ist seit Februar für den Autoverkehr gesperrt, weil Russland seinen Teil aufwendig rekonstruieren will. Im Mai reagierte Estland auf die neuen Umstände: Statt rund um die Uhr ist der Grenzübergang nur noch von 7 bis 23 Uhr besetzt.
Mit Wirkung vom 8. August verschärfte Estland dann seine Zollkontrollen, weshalb, so die Behörden, mindestens mit einer Verdopplung der Abfertigungszeit gerechnet werden müsse. Offizielle Begründung: die konsequentere Umsetzung der Russland-Sanktionen. Unter anderem darf keine Haushaltstechnik ausgeführt werden, die teurer als 750 Euro ist. Für Audio- und Videotechnik gelten 1000 Euro als Obergrenze.
Mit dem Ende der Ferienzeit scheint sich die Lage an Russlands Außengrenzen sichtlich entspannt zu haben. Doch wenn sich nichts substanziell ändert, dürfte das nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm sein. Auf Facebook* schrieb der User Aleksei Ratsevits aus dem estnischen Narva – offenbar mit Blick auf die gemeinsame Sowjetvergangenheit, als Narva keine Grenzstadt war – frustriert: „Ich habe das Gefühl, das hört nicht mehr auf. Wozu wir auch aufrufen, was wir auch sagen, wohin wir uns auch wenden – das ist der Preis für unser glückliches Leben zu beiden Seiten dieses Flusses. Nur die heutige Generation hat leider kein Glück. Die Jugend muss die Probleme lösen, so gut sie es vermag.“
* Facebook gehört zu Meta, das in Russland als „extremistisch“ eingestuft und verboten ist.
Tino Künzel
Запись Vom Ausnahmezustand an den Grenzen впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.