Die Kasse unserer Hauptstadt ist leer, Rot-Rot-Grün hat das Geld verprasst. Jetzt regieren CDU und SPD, und sie müssen sparen. Auch bei der Kultur. Ausgerechnet bei der Kultur? Berlin hat doch sonst nichts. Gespenstische Szenen in Mitte: Am Marx-Engels-Forum beim Roten Rathaus steht ein Leichenwagen, mehr als tausend Menschen haben sich versammelt. Sie halten Grabkerzen in den Händen, Männer tragen Frack, im Trauermarsch ziehen sie durch die Stadt. Wer ist gestorben? Ach, die Berliner Kultur. RIP – Ruhe in Frieden. Es war kein natürlicher Tod, sie wurde ermordet. Tatwerkzeug: der Sparhammer. Die mutmaßlichen Täter verfügen über Macht und Regierungsämter. Hauptverdächtige: der Regierende Bürgermeister Kai Wegner und sein Kultursenator Joe Chialo, beide CDU . Ihrem Koalitionspartner, der SPD , wird Beihilfe zum Kulturmord vorgeworfen. Falls Sie nicht in Berlin leben, sondern in Karlsruhe oder Oldenburg oder Meiningen, haben Sie von dieser brutalen Tat vielleicht noch gar nichts mitbekommen. In den Medien der Hauptstadt geht es dagegen seit Wochen um dieses Topthema, die überregionalen Feuilletons sind inzwischen auch in Aufruhr. Irrsinn, Abriss, Kahlschlag, Widerstand – das sind die Keywords in den Schlagzeilen. Was passiert da gerade? Der Senat muss sparen, über drei Milliarden Euro im nächsten Jahr, noch einmal knapp zwei Milliarden im übernächsten. Das Land Berlin hat, wie andere Länder auch, in den Corona-Jahren seinen Haushalt deutlich aufgestockt, von knapp 30 Milliarden auf 40 Milliarden Euro. Nach der Pandemie haben andere Länder ihre Ausgaben wieder zurückgefahren, die rot-rot-grüne Koalition in Berlin hielt das nicht für nötig. Deshalb ist die Kasse jetzt leer. Auch der Kultursenator soll einen Beitrag zur Sanierung der öffentlichen Finanzen erbringen: 130 Millionen Euro. Das sind 12 Prozent seines Haushalts. Ist das eine Schande? Oder zumutbar? Eine kurze Rechnung: Wenn 130 Millionen 12 Prozent des Kulturetats in Berlin sind, wie viel gibt die Stadt dann insgesamt für die Kultur aus? Richtig, auch nach den Kürzungen noch knapp eine Milliarde Euro. Eine Milliarde! Keiner anderen deutschen Stadt ist die Kultur so viel wert wie Berlin – okay, Berlin ist ja auch die größte Stadt. Aber: In keiner anderen Stadt entfallen auf jeden einzelnen Bürger so viele Kultursubventionen wie auf die Berlinerin und den Berliner. Nicht in Hamburg , nicht in München , nicht in Karlsruhe, Oldenburg oder Meiningen. Kultur auf Schritt und Tritt Unsere Hauptstadt hat drei Opernhäuser (Paris begnügt sich mit zweien, London auch). Die Stiftung, in der die Staatsoper Unter den Linden, die Deutsche Oper und die Komische Oper vor 20 Jahren zusammengeführt wurden (schon damals nur unter Protest), bekommt vom Senat jährlich 160 Millionen Euro, sie beschäftigt fast 2.000 Mitarbeiter. Schauen Sie sich die Berliner Theaterlandschaft an: das Deutsche Theater, die Volksbühne, das Berliner Ensemble, das Gorki-Theater, die Schaubühne, das Grips-Theater für Kinder und Jugendliche – kennen Sie diese Vielfalt in Ihrer Stadt auch? Wenn Sie in Berlin unterwegs sind, erleben Sie Kultur auf Schritt und Tritt: Museen, Gedenkstätten, Bibliotheken. Berlin genießt zudem ein ganz besonderes Privileg. Ein großer Teil der Hauptstadtkultur wird gar nicht aus dem Landeshaushalt bezahlt. Die bedeutenden Sammlungen auf der Museumsinsel, das als Schloss verkleidete Humboldtforum auf der anderen Straßenseite, die Akademie der Künste, das Deutsche Historische Museum, die Berlinale, ... – das sind alles "Einrichtungen und Projekte von nationaler Bedeutung". Heißt: Die Rechnung geht an Claudia Roth , Staatsministerin für Kultur in der Bundesregierung . Ihr Etat: 2,3 Milliarden Euro. Den Löwenanteil gibt sie in Berlin aus. Die Mittel sind nicht grenzenlos Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin sehr dafür, dass das kulturelle Erbe unseres Landes erhalten bleibt und gepflegt wird. Kunst ist ein Lebensmittel, eine Gesellschaft ohne Kultur ist eine Gemeinschaft der Banausen. Kunst und Kultur sollen frei sein und sich entfalten können, der Bund und vor allem die nach dem Grundgesetz zuständigen Länder müssen dafür die Mittel bereitstellen . Aber es gibt doch keine unbegrenzten Mittel. Joe Chialo, der Berliner Kultursenator, wurde in Bonn geboren, er stammt aus einer tansanischen Diplomatenfamilie. Früher war er Musikmanager. Er gründete die Airforce 1 Music Group, die afrikanische Musik förderte, auch die Kelly Family hatte er unter Vertrag. Popmusik ist Kunst, aber ohne Subventionen. Mutmaßlich aufgrund seiner Business-Erfahrung regte Chialo an, die Kulturszene könnte sich ein Beispiel am Berghain nehmen, dem privat finanzierten Aushängeschild der Clubszene in Berlin. Und selbst Einnahmen durch Sponsoring generieren. Die Anregung kam nicht gut an. "Wir wollen nicht abhängig sein von der Gunst irgendwelcher Sponsoren", erklärte Christian Thielemann, Chef der Staatsoper Unter den Linden. "Am Ende wäre ich Generalmusikdirektor der Uber-Oper." Der Fahrdienst Uber ist Namenspatron einer Mehrzweckhalle am Ostbahnhof, wo Sport und Kultur als Geschäft betrieben werden. Hinter Chialos Politik stecke eine neoliberale Agenda, erklärten Sprecher der freien Szene, die von Thielemanns Arbeitsbedingungen nur träumen können. Aber egal, ob prominent oder unentdeckt, ob hoch bezahlt oder gering bezuschusst: In Berlin legt die Kultur Wert darauf, eine Angestellte des öffentlichen Dienstes zu sein. Alles andere ist igitt. Kai Wegner springt bei Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner versuchte, Chialo mit einem anderen Argument beizuspringen. Ich sage es vorweg: Das ging auch schief. Wegner lenkte den Blick über die Bühne des Theaters hinaus auf die Verkäuferin im Supermarkt. Die müsse schließlich mit ihren Steuern die Kulturförderung finanzieren, obwohl sie vielleicht noch nie in der Oper war. Aber klar, das geht gar nicht: Kultur und Soziales gegeneinander ausspielen, wo doch gerade Berlin stolz auf die soziale Inklusion ist, sprich: auf günstige Eintrittspreise. Im Ballhaus Naunynstraße in Kreuzberg zum Beispiel kann sich auch Wegners Verkäuferin die Tanzperformance leisten. Die Theaterkarte kostet pauschal 14 Euro, ermäßigt 8 Euro. Ist das nicht großartig? Leider hat die Sache einen Haken. Jede Eintrittskarte, die das Ballhaus "verkauft", wird vom Land Berlin subventioniert – und jetzt Achtung: mit 466 Euro. Bei Thielemanns Lindenoper wird jeder Besuch mit 256 Euro bezuschusst. Deutlich sparsamer wirtschaften das Berliner Ensemble oder das Gorki-Theater. Ist ihre Kunst deshalb weniger wert? "Berlin Sold Out" lautete das vorwurfsvolle Motto des Trauermarschs. Ausverkauf in Berlin. Und Abwanderung. Die Veranstalter erwarten eine regelrechte Fluchtbewegung: "Die Künstler*innen werden an die Peripherie gedrängt oder ziehen weg." Man stelle sich das vor: Weil für ein bisher von der Berliner Kulturförderung bezahltes Atelier in Friedrichshain im nächsten Jahr das Geld fehlt, müssten die Künstler nach Köpenick oder Reinickendorf umziehen, an die "Peripherie". Sollen sie dort als Vertriebene hausen? Von Aachen bis Zwickau In diesem Text habe ich oben drei Orte erwähnt: Karlsruhe, Oldenburg, Meiningen. Das ist keine Zufallsauswahl. Alle drei Städte liegen, von Berlin aus gesehen, noch weit hinter der Peripherie. Sie verfügen trotzdem über namhafte Theater, Staatstheater sogar. Die Länder Baden-Württemberg, Niedersachsen und Thüringen, die sie maßgeblich finanzieren, lesen ihnen auch nicht jeden Wunsch von den Augen ab. Von Trauermärschen und aufgeregten Protesten liest man trotzdem nichts. Falls Sie in der Gegend sind: Der Besuch lohnt sich. Daneben gibt es noch 50 Stadttheater in Deutschland, von A wie Aachen bis Z wie Zwickau . Es gibt wenige andere Länder auf der Welt, die eine derart reichhaltige Kulturlandschaft haben. Sogar da, wo die hauptstädtischen Kulturschaffenden nichts als tiefste Provinz vermuten. Berlin ist und bleibt trotzdem das kulturelle Zentrum der Republik. Die Hauptstadt könnte diesen Anspruch selbstbewusst vertreten, gern auch mit der ihr eigenen großen Klappe. Stattdessen schlägt die Kulturlobby jetzt einen wehleidigen Jammerton an. Das zeugt nicht von Selbstbewusstsein, sondern nur von Selbstgefälligkeit. Wenn Sie demnächst mal wieder in der Hauptstadt zu Besuch sind, werfen Sie einen Blick in den Veranstaltungskalender. Sie werden ein überbordendes, sehr lebendiges kulturelles Angebot vorfinden, trotz Wegner und Chialo und ihres Sparhammers. Nutzen Sie es unbedingt. Bezahlt haben Sie es ohnehin schon.