Die frühere deutsche Turnerin Kim Bui hat ein Leben im Glanz des Rampenlichts geführt. Doch ihre Branche hat auch Schattenseiten – denn der Körper steht unter ständiger Beobachtung. Früher ging es im Turnen darum, möglichst schlank zu sein. Das galt als feminin, seit Nadia Comăneci als erste Turnerin überhaupt eine perfekte 10,0 als Wertung bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal erreichte. Die Rumänin prägte damals das dürre Körperbild. Sie wog im Alter von 14 Jahren ungesunde 39 Kilogramm bei 1,42 Meter. Die frühere deutsche Leistungsturnerin Kim Bui sagt im Gespräch mit t-online, dass Comăneci "einen Trend gesetzt" habe: "Dieses Körperbild herrschte lange vor." So wie einst Comăneci prägt heute Superstar Simone Biles die Sportart. Die US-Amerikanerin setzt sich allerdings für eine andere Denkweise ein: für einen gesunden Körper, zu dem auch Muskeln gehören. Die siebenfache Olympiasiegerin hat damit eine Debatte über weibliche Körperbilder aus der Sicht der Turnerinnen angestoßen. Auch in Deutschland machen sich immer mehr Athletinnen für diese Sicht stark und wollen ihre Sportart sicherer und gesünder machen. Ende des vergangenen Jahres legten mehrere Turnerinnen Missstände offen. Sie sprachen über den Druck in ihrem Leistungssportsystem und über die Wahrnehmung ihres Körpers durch andere – mit erschütternden Folgen. Wertungsrichter, Zuschauer und Trainer spielen dabei alle eine Rolle. "Es herrschte lange Zeit ein gewisses Idealbild im Kopf der Leute" Kim Bui weiß genau, wie es sich anfühlt, Hochleistung im Scheinwerferlicht zu erbringen – und dabei nicht nur von Kampfrichtern bewertet zu werden, sondern auch von Zuschauern und den eigenen Trainern. Und das nicht nur in Bezug auf ihre Leistungen, sondern auch auf ihren Körper. Die EM-Dritte von 2022 erklärt im Gespräch mit t-online: "Es herrschte lange Zeit, teilweise auch noch bis heute, ein gewisses Idealbild im Kopf der Leute. Nicht nur bei den Kampfrichterinnen und Kampfrichtern, sondern auch allgemein." Doch sie betont auch: "Das Körperbild hat sich durch die Jahre verändert. Jetzt ist es im Wandel." Muskulöse Körper seien sportlich eine Hilfe, in der äußerlichen Betrachtung aber eher ein Hindernis, erklärte Simone Biles bereits vor acht Jahren in einem Interview. Sie selbst hatte mit ihrem starken Körper zu kämpfen. "Ich denke, in der Welt des Turnens kommt es auf die Figur an, weil man wegen seines muskulösen Körpers ein wenig schüchtern wird. Aber ohne unseren Körper könnten wir die Dinge, die wir tun, nicht tun oder erreichen, deshalb sind wir sehr dankbar dafür", sagte sie im Gespräch mit CNN . Auch Bui meint, dass im Turnen "die Verfassung des Körpers eine zentrale Rolle spielt". Denn: "Er muss Höchstleistung bringen. Man muss seinen eigenen Körper um die Barrenholme schwingen, am Balken, Boden und Sprung abspringen und wieder auf den Füßen landen." Das erfordert viel Kraft. Kraft, für die viel Muskulatur notwendig ist. Auch diese Muskulatur hat der 1,42 Meter großen Biles zahlreiche Erfolge beschert. Die 28-Jährige ist siebenfache Olympiasiegerin, gewann jeweils zweimal olympisches Silber und Bronze. Zudem ist sie 23-fache Weltmeisterin. Biles ging bei den Olympischen Spielen 2021 offen mit psychischen Problemen um. Sie sagte damals, dass dies etwas sei, das oft "verdrängt wird". Auch Sportler seien Menschen mit Gefühlen. Kim Bui hatte ebenfalls psychische Probleme und machte im Zuge der Veröffentlichung ihrer Biografie ihre frühere Bulimie öffentlich. "Wo soll ich denn abnehmen?" "Bulimie ist eine psychische Erkrankung und sehr komplex. Definitiv trug ständige Beobachtung und auch ständiges Wiegen dazu bei", meint Bui im Gespräch und führt zudem an: "Es hieß so oft: Schau mal, dass du abnimmst. Ich habe mich immer vor den Spiegel gestellt und gedacht: Wo soll ich denn abnehmen?" Auch Biles berichtete davon, dass ein Trainer sie im Alter von 16 Jahren als "dick" bezeichnet habe. "Ich war total geschockt und dachte: 'Warum sagt er so etwas?'", so die Weltklasse-Athletin. "Es ist schwer, in einer Sportart aufzuwachsen, in der man mit sehr wenig Kleidung am Körper antritt und alle einen anstarren, egal wie gut man ist." Kommentare und Aussagen, die Biles und Bui beschreiben, können folgenschwer sein, wie Sportpsychologin Jana Beckmann vom Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln im Gespräch mit t-online bestätigt: "Dieses ständige Beobachtetwerden kann dazu führen, dass Athletinnen und Athleten den eigenen Körper permanent auch kontrollieren und damit bewerten. Dass sie so eine Art inneren Spiegel entwickeln, der immer an ist." "Kann häufig zu einem überkritischen Selbstbild führen" Beckmann führt aus: "Gerade in Sportarten wie dem Turnen, wo jede Bewegung oder Haltung, letztendlich auch der Körper selbst, Teil dieser Leistungsbewertung ist, kann das häufig zu so einem überkritischen Selbstbild führen. Wir würden aus psychologischer Sicht sagen, dass dann eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit vorliegt." Dies bedeutet, dass der eigene Körper dann auch über die Rückmeldungen von außen reguliert wird. Beispielsweise über Wertungsrichter und Trainer, aber auch Plattformen wie Social Media. Warum Trainerinnen und Trainer trotzdem solche Aussagen tätigen? Kim Bui kann nur Vermutungen anstellen, sie glaubt jedoch: "Manchmal wissen es die Trainer vielleicht auch nicht anders, weil sie es selbst nicht anders vorgelebt bekommen haben. Auch sie bekommen Druck von den Verbänden und müssen Erfolge liefern. So geben sie den Druck an die Athleten weiter." Dies ist auch deshalb problematisch, weil viele Athletinnen ihre Sportart bereits seit jungen Jahren ausüben. Sie turnen seit ihrer Kindheit und sind dadurch ein System aus Druck und Beobachtung gewohnt. Der Deutsche Turner-Bund hat über fünf Millionen Mitglieder, 66 Prozent davon sind weiblich. Wenn die Athletinnen noch jung sind, vertrauen sie auf das, was die Trainerinnen und Trainer sagen. Das Umfeld prägt das Verhalten stark. Bei jungen Athletinnen haben Trainer einen "enormen Einfluss" Die Trainer und Funktionäre haben laut Beckmann einen "enormen Einfluss", Rückmeldungen würden "oft gar nicht hinterfragt, sondern direkt verinnerlicht". Im Deutschen Turner-Bund sind gemessen an der Gesamtmitgliederzahl 59 Prozent Kinder. Davon sind wiederum in absoluten Zahlen mehr als eine Million weiblich. Gerade Kinder sind anfällig dafür, "dass sich Selbstwert und Identität sehr früh und zu stark über die Leistung oder den Körper definieren", so Beckmann. Der Sport nehme dann so viel Raum ein, dass die Athletinnen sich nur noch darüber an dem daran gekoppelten Erfolg identifizieren. Laut Beckmann spielen dabei zwei Aspekte eine Schlüsselrolle, um dem entgegenzuwirken: Ein positives Denken, daran aufgezogen, dass Freude am Sport und die antrainierte Muskulatur gesund sind. Dazu die Erkenntnis, "dass der Körper eine Ressource und ein Werkzeug ist". Also nicht zu bewerten, wie er aussieht, sondern zu sehen, was der eigene Körper leisten kann. Auch der Sport müsse als Ganzes gesehen werden. "Also nicht nur physisch, sondern auch psychologisch", so Beckmann weiter. "Es muss auch dahingehend Hilfe geben" Dem stimmt auch Kim Bui zu, die sich nicht nur für das Turnen, sondern generell für einen gesunden Sport einsetzt. Als Teil der IOC-Athletenkommission ist sie ebenso dafür, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie hart Sport sein kann und dass er nicht nur den Körper, sondern auch den Geist fordert. Sie betont allerdings: "Es muss auch dahingehend Hilfe geben. Wir trainieren den Körper, weil er auf Hochleistung getrimmt werden muss, um den Anforderungen der jeweiligen Sportart gerecht zu werden, aber auch der Geist muss trainiert werden." Auch viele andere Sportlerinnen und Sportler setzen auf Mentaltraining. Die frühere deutsche Turnerin Sarah Voss, EM-Dritte mit dem Team 2022, schwor ebenso darauf. Warum? Beckmann erklärt: "Selbstmitgefühl bedeutet nicht Bequemlichkeit, sondern die Fähigkeit, mit sich selbst so respektvoll umzugehen, wie man das auch mit Teamkolleginnen machen würde." Dies könne entlasten und auch von mentalem Druck befreien. "Noch nicht da angekommen, dass es auch gelebt wird" Kim Bui hofft, dass die Diskussionen über mentale Gesundheit und Körperbilder im Leistungssport und Turnen Konsequenzen im Alltag der Athletinnen haben. "Wir sind da angekommen, dass wir darüber reden und ein Bewusstsein schaffen – aber wir sind noch nicht da angekommen, dass es auch gelebt wird", sagt sie. Für die ehemalige Turnerin ist klar: "Da ist noch viel Arbeit zu tun. Trainer und Athleten müssen dahingehend geschult werden", fordert sie – auch, weil es nicht nur um die sportliche Leistung geht. Sondern auch um den Menschen dahinter.