Nanine Linnings "Dusk" in Heidelberg: Der Mensch ist das Maß aller Dinge (plus Fotogalerie)
![Nanine Linnings](http://www.rnz.de/cms_media/module_img/546/273196_1_gallerydetail_image_5309a3499a3b6d2d.jpg)
Von Volker Oesterreich
Die Abschiede scheinen Nanine Linning zu liegen, denn gleich ihren Einstand in Heidelberg hat sie 2012 mit der furiosen Abschiedschoreografie "Requiem" gefeiert, ein bilderreiches, emotional überwältigendes Gesamtkunstwerk, mit dem sie ihr hiesiges Publikum sofort für sich gewonnen hat. Seitdem ist es stetig gewachsen. Nanine Linning hat zusammen mit dem Unterwegstheater die "Tanzallianz" geschmiedet, sie hat die Tanzbiennale etabliert und unseren Blick für magische Momente ganz weit geöffnet. Damit ist ihr eine Charmeoffensive sondergleichen gelungen, die sich international herumgesprochen hat. Zum Nutzen der Heidelberger Kulturszene.
Nun präsentiert uns die aus den Niederlanden stammende Künstlerin mit "Dusk" (Dämmerung) wiederum ein getanztes Farewell, aber in einer völlig anderen, puristischen Ästhetik. Hier ist der Mensch das Maß aller Dinge. Was zählt, ist allein sein filigranes, vieldeutiges Bewegungsvokabular, aus dem Nanine Linning eine choreografische Textur in den Schattierungen der Abenddämmerung und der beginnenden Nacht webt.
Die zwölfköpfige Company formiert sich zu Beginn wie ein zitternder, auf Spitze trippelnder Pulk in zartrosa Flitterkostümen, designt von Irina Shaposhnikova. Man könnte meinen, eine abstrahierte Schilfinsel zu sehen, die im Meer der Unendlichkeit wogt, während aus dem Orchestergraben feine Streicherklänge fluten. Ganz dezent öffnet Elias Grandy mit seinen Philharmonikern die Schleusen im Orchestergraben, lässt die Klänge der "Shaker Loops" von John Adams sanft, aber dennoch mit Macht fließen.
Pulsierende Lebenslust soll das signalisieren. Freilich eine Lebenslust, die in den beiden weiteren Teilen der nur einstündigen Produktion einen eigenwilligen Sog entwickelt und dem Untergang, sprich: dem Tod, entgegen strudelt. Arvo Pärts "Con Sublimata" aus der vierten Sinfonie und Gustav Mahlers Adagio aus seiner Neunten ergeben dazu eine ganz eigenartige Wassermusik, die teils in Katarakten herabstürzt, teils mit Glockenspiel und Pauken das letzte Stündlein einläutet, bis sie im nebulösen Nirwana verdampft.
Aus dem Pulk des ersten Teils verabschieden sich unterschiedlich große Formationen in berauschender Körperarbeit: kleinere Gruppen, Quartette, Trios, Pas de deux und ein überaus ästhetisches Solo von Boglárka Heim. Nun tragen die Tänzerinnen und Tänzer hautfarbene Trikots. Fast könnte man meinen, sie seien nackt. Nichts mehr lenkt von ihrer Feingliedrigkeit und ihrer akrobatischen Geschmeidigkeit ab. So feiern sie im fast leeren Raum das Leben, allerdings im Bewusstsein der Endlichkeit. Gaze-Vorhänge lassen uns schon ins Reich der Schatten blicken. Memento mori lautet das Signal. Wie es dort drüben im Bühnenjenseits aussieht, können wir nur erahnen, da Nebelgewölk und halbtransparente Vorhänge den klaren Blick verhindern. Nichts Genaues weiß man nicht.
Aus dem Orchestergraben erklingt dazu Düsternis, allerdings ohne Bitterkeit. Vielmehr wird dem Publikum durch Tanz und Musik suggeriert, dass Abschied und Anfang sich gegenseitig bedingen, was Nanine Linning im Programmheft auch durch ihr englischsprachiges Motto verdeutlicht. Darin erwähnt sie eine rasante Fahrt auf einer dunklen Autobahn, die in eine Landschaft der Imagination führt. Anders ausgedrückt: L’art pour l’art auf der Tanzbühne setzt keine Grenzen. Solche Grenzen wollte sich denn auch das Premierenpublikum nicht setzen, als es am Ende enthusiastisch klatschte.