Menschenrechte | Uns doch egal
„Man könnte es Zwei-Klassen-Justiz nennen“, sagt Helmut Scholz, Europa-Abgeordneter der Partei Die Linke und zuständig für den Themenbereich internationaler Handel. Im Sommer hat er ein Amazonasgebiet in Ecuador besucht, das durch die Ölförderung seit den 1960er Jahren mit Milliarden Tonnen giftiger Abfälle verseucht wurde. Weite Teile des Regenwaldes wurden verschmutzt, Krebs- und Todesfälle bei Anwohnern häuften sich. Die betroffenen Gemeinden verklagten den Ölkonzern Texaco vor einem US-amerikanischen Gericht auf Schadenersatz, doch nach jahrelanger Verhandlung erklärte sich das Gericht für nicht zuständig.
Ein ecuadorianisches Gericht verurteilte Texacos Rechtsnachfolger Chevron 2011 schließlich zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von neun Milliarden US-Dollar. Der Konzern weigert sich jedoch bis heute, dem nachzukommen. Stattdessen verurteilte ein Schiedsgericht Ecuador zur Zahlung an Chevron: wegen Verstoßes gegen einen Investitionsschutzvertrag.
„Die Konzerne haben Sonderrechte, die über normale Standards hinausgehen, und aus dieser Ausnahme ist die Regel geworden“, sagt Scholz. Tatsächlich gibt es mittlerweile Tausende von internationalen Handelsverträgen, in denen Unternehmen besondere Rechte zugebilligt werden: Im Ausland investierende Konzerne werden gegen Profitausfälle abgesichert, die etwa durch die Verschärfung von Umwelt-, Steuer- oder Arbeitsgesetzen entstehen können. Zur Verfolgung ihrer Rechte sind die Konzerne nicht auf den langwierigen Instanzenweg nationaler Gerichte angewiesen, sondern können sich direkt an ein nicht-staatliches Schiedsgericht wenden. Ganz anders steht es um Grund- und Menschenrechte, die immer wieder durch US-amerikanische oder europäische Unternehmen verletzt werden, ohne dass Betroffene sie dafür haftbar machen können.
Sorgfalt als Teil des Geschäfts
Das Ungleichgewicht zwischen Konzerninteressen und Menschenrechten will nicht nur Ecuador nicht länger hinnehmen: 2014 stimmte eine Mehrheit der im UN-Menschenrechtsrat vertretenen Staaten für die von Ecuador und Südafrika initiierte Resolution 26/9, mit der ein „UN-Treaty-Prozess“ eingeleitet wurde. Ziel ist ein verbindliches Abkommen, das Unternehmen entlang ihrer Lieferketten und für alle Tochterunternehmen zur menschenrechtlichen Sorgfalt verpflichtet. Im Fall eines Fabrikbrandes, wie er in den letzten Jahren zahlreiche Textilarbeiterinnen in Pakistan oder Bangladesch das Leben gekostet hat, müsste ein deutscher Endabnehmer nachweisen, dass er die Sicherheit der Zulieferfabrik sorgfältig geprüft hat. Gelänge dieser Nachweis nicht, könnten Betroffene das deutsche Unternehmen auch in Deutschland verklagen.
Auch Brasilien, Mexiko, Indien und China machen sich inzwischen für den verbindlichen Schutz stark. Abgeordnete der EU-Länder und des EU-Parlaments unterzeichneten einen Appell, in dem sie das Zustandekommen des UN-Abkommens unterstützen. Die „Treaty Alliance“, ein Bündnis von mehr als tausend zivilgesellschaftlichen Organisationen, fordert die Bundesregierung mit einem Positionspapier auf, sich aktiv in den UN-Verhandlungsprozess einzubringen.
Doch die Regierungen der Industriestaaten, deren Unternehmen weltweit die größten Schäden anrichten, stehen dem Abkommen ablehnend gegenüber. Der Resolution haben weder die USA noch die EU-Staaten zugestimmt, und an den Verhandlungsrunden nahmen sie nur sporadisch teil. Die USA glänzen durch Abwesenheit, Deutschland schickte zur dritten Verhandlungsrunde Ende Oktober in Genf nur partiell „beobachtende“ Vertreter.
Die Haltung der Regierung begründet ein Sprecher des Auswärtigen Amts damit, dass noch „offene Fragen“ bestünden, etwa zur „Einschränkung auf Unternehmen mit grenzüberschreitenden Aktivitäten, obwohl Menschenrechtsverletzungen auch im Verantwortungsbereich lokaler Unternehmen geschehen“. Zudem hätten die Initiatoren der Resolution „keine eigenen Instrumente zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, zum Beispiel Nationale Aktionspläne, vorgelegt“. Einen solchen Aktionsplan hat die deutsche Regierung zwar, doch der sieht keine Verbindlichkeit für Unternehmen vor, sondern nur freiwillige Selbstverpflichtungen. Sarah Lincoln von Brot für die Welt vermutet für die Zurückhaltung andere Gründe: „Die deutsche Regierung will die eigenen Konzerne vor strengen Menschenrechtsvorgaben schützen, schließlich profitieren diese von billigen Rohstoffen und schlechten Arbeitsbedingungen an den Produktionsstandorten.“ Dabei sind nicht nur Länder des globalen Südens von der rechtlichen Schieflage betroffen.
Deutschland etwa wurde vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall auf Schadenersatz in Höhe von knapp fünf Milliarden Euro verklagt, weil ihm durch den Atomausstieg diese Summe an Profiten entgangen sei. Verhandelt wird vor einem nicht-staatlichen Schiedsgericht der Weltbank, das weder Einblick in entscheidende Dokumente zulässt noch mit ausgebildeten Richtern besetzt ist. Möglich wird die Klage durch den Energiecharta-Vertrag, ein weiteres Investitionsschutzabkommen.
Immer mehr Bürger sehen Privilegien für Konzerne zunehmend kritisch, wie der Widerstand gegen die Handelsabkommen CETA und TTIP zeigt. Auch die Unterstützung für das UN-Abkommen wächst: Waren bei der ersten Verhandlungsrunde erst 60 Staaten dabei, nahmen bei der nächsten schon 80 und bei der diesjährigen dritten Verhandlungsrunde mehr als 100 Staaten teil. Auch unter EU-Staaten gibt es Bewegung: Frankreich hat Anfang des Jahres eine verbindliche menschenrechtliche Sorgfaltspflicht für Firmen eingeführt, Holland ein Gesetz gegen Kinderarbeit in der Lieferkette verabschiedet.
Sarah Lincoln ist zuversichtlich, dass sich die Menschenrechtslage auf lange Sicht verbessern wird: „Das UN-Abkommen wird kommen, auch wenn es noch ein paar Jahre dauert.“ Und auch Helmut Scholz ist optimistisch: „Trotz aller Skepsis: Die Staaten haben erkannt, dass sie für die Menschenrechtsbindung ihrer Unternehmen verantwortlich sind.“ Ob diese Erkenntnis zu Taten führt, wird sich schon bald zeigen: Beim geplanten Handelsabkommen JEFTA zwischen der EU und Japan könnte die EU auf einer „menschenrechtlichen Folgeabschätzung“ bestehen. Ob sie das tut, lässt sich allerdings nicht prüfen, denn verhandelt wird: nicht-öffentlich.
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