Nach Rücktritt von Türk-Gücü-Trainer: "Ich will hier nicht der Sündenbock sein"
Von Eric Schmidt
Sinsheim. So etwas erleben Journalisten selten. Dass sich jemand freiwillig meldet und zugibt: „Ich war’s.“ Ibrahim Ertürk hat genau das getan. Er hat Kontakt zur RNZ aufgenommen – und sich geoutet: „Ich war der Zuschauer, wegen dem Volker Keitel bei Türk Gücü zurückgetreten ist“, sagte Ertürk am Telefon, betonte aber: „Es war alles ganz anders.“ Mit Nachdruck bat er um ein persönliches Gespräch. Der Bericht über eine Begegnung.
Ibrahim Ertürk kommt nicht mit leeren Händen zur RNZ. Als er vormittags kurz vor halb elf die Redaktionsräume betritt, hat er eine schwarze Mappe und eine rote Einkaufstasche dabei. In der Mappe befinden sich mehrere Papiere – Kopien von Zeitungsartikeln über Ertürks Kampf gegen die Korruption im türkischen Profifußball, dazu selbst angefertigte Skizzen vom Kunstrasenplatz beim VfB Eppingen, wo Türk Gücü Sinsheim vor zwei Wochen mit 2:4 verlor. Die Einkaufstasche enthält einen Pokal. Ertürk nimmt ihn heraus und stellt ihn auf den Tisch. „Den hab’ ich von Trabzonspor überreicht bekommen“, sagt er.
Trabzonspor, das ist Ertürks Lieblingsklub in der Heimat. 2016 hat der türkische Erstligist den Mann aus dem Kraichgau zum „Fan des Jahres“ gekürt. Eine Auszeichnung, die ihn mit Stolz erfüllt. Der Finanz- und Lohnbuchhalter liebt den Fußball und hat diese Liebe mit nach Deutschland gebracht. Hier ist Türk Gücü Sinsheim sein Verein. Gäbe es bei Türk Gücü einen „Fan des Jahres“, Ibrahim Ertürk, wäre es wohl schon öfter geworden. Er war Vorsitzender und Abteilungsleiter, er war Trainer und Schriftführer, Aufbauhelfer und Retter. Als die TG vor ein paar Jahren vor dem Aus stand, stellte er über Nacht eine Mannschaft auf die Beine. „Ich war immer da für Türk Gücü und habe immer alles getan“, sagt Ertürk. „Türk Gücü ist wichtig für Sinsheim.“
Umso mehr macht ihm jetzt zu schaffen, dass er schuld sein soll. Dass ihm zur Last gelegt wird, im Spiel beim VfB Eppingen II den eigenen Trainer tätlich angegriffen und damit die Verantwortung für den Rücktritt von Volker Keitel zu haben. Was man dabei wissen muss: Ertürks Name wurde bisher nirgends öffentlich genannt, nicht in den Zeitungen, nicht von den Offiziellen des Vereins. Aber die Welt ist klein, vor allem die im Fußball. „Ich bin oft angesprochen worden“, sagt Ibrahim Ertürk und betont: „Ich will hier nicht der Sündenbock sein. Ich habe nichts getan.“ Immer wieder braust er auf in dem knapp einstündigen Gespräch bei der RNZ, immer wieder erhebt er seine Stimme. Er sei seit 1983 in Sinsheim und anerkannt, 1990 sei er vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat als „Kavalier der Straße“ ausgezeichnet worden.
Dass die Angelegenheit beim Spiel in Eppingen einen solchen Verlauf nahm, wundert Ertürk auch drei Wochen später. Er wollte den Sportplatz gerade verlassen, als es Elfmeter für Türk Gücü gab. Da griff der Linienrichter ein, um den Schiedsrichter von seiner Entscheidung abzubringen. Ertürk, das gibt er unumwunden zu, empörte sich und regte sich auf – er hatte sich bereits zuvor über den Linienrichter geärgert. Volker Keitel versuchte, beruhigend auf ihn einzuwirken, es kam zum Disput – Keitel winkte ab. Für Ertürk ein Affront: „Das ist eine schlimme Geste. Das hat mich beleidigt. Ich bin nicht irgendjemand“, sagt Ertürk. Er sei zu Keitel gegangen, um ihn zur Rede zu stellen, aber geschlagen, nein, das habe er ihn mit Sicherheit nicht. „Ich war hinter der Stange, Herr Keitel vor der Stange. Vielleicht habe ich meinem Arm ausgestreckt, damit sich Herr Keitel umdreht und mit mir spricht. Ich bin Großvater, ich bin fast 60, mein Schwiegersohn ist der Kapitän. Ich schlage niemanden. Ich war noch nie in eine Schlägerei verwickelt“, beteuert Ertürk. Ob er vielleicht anders handgreiflich geworden sei? Ertürk ist entrüstet: „Bin ich nicht. Ich hab’ auch nicht geschubst oder gestoßen.“
Was er nicht nachvollziehen kann: Dass Volker Keitel „wegen so etwas“ zurückgetreten ist und sein Amt niedergelegt hat. Keitel habe andere Gründe gehabt, bei Türk Gücü aufzuhören, glaubt Ertürk. Er verweist auf familiäre und gesundheitliche Probleme, auf die Misserfolgsserie von sechs Spielen ohne Sieg und die Äußerungen des Trainers in der RNZ über den türkisch-kurdischen Konflikt – Äußerungen, die intern nicht gut angekommen seien. Der Vorfall in Eppingen sei nur ein Vorwand. „Der Rücktritt hätte nicht sein müssen. Herr Keitel hat die Mannschaft im Stich gelassen.“
Ertürk erklärt, er hätte gerne mit Volker Keitel über alles gesprochen. Als er erfuhr, dass sich Keitel am Dienstag vor zwei Wochen mit den Türk-Gücü-Verantwortlichen traf, wäre er gerne dabei gewesen – mehrfach ließ er das den Vorstand wissen. Keine Reaktion, eine Einladung blieb aus. Ob er sich bei Volker Keitel entschuldigen würde? „Ich wollte doch gar nichts von ihm. Herr Keitel hat angefangen. Er müsste sich bei mir entschuldigen“, findet Ertürk „Ich bin eine Respektsperson, man kennt mich hier. Ich habe mich immer für Gerechtigkeit und für Völkerverständigung eingesetzt.“
Dass er impulsiv ist und aus sich herausgeht – das weiß er. „Das wird sich in meinem Alter auch nicht mehr ändern“, sagt Ertürk, der heute seinen 59. Geburtstag feiert. Auch mit 59 wird er weiter Fußball schauen, natürlich auch bei Türk Gücü, seinem Verein. Morgen kickt die TG zu Hause gegen Obergimpern, „auf jeden Fall“ wird er mit seiner Frau Sükran dabei sein. Ob noch kein Platzverbot gegen ihn ausgesprochen wurde, wie es angedroht worden war? „Platzverbot?“, antwortet Ibrahim Ertürk und lächelt: „Das würde ich nicht akzeptieren. Da müsste man mir erst einmal etwas nachweisen. Ich habe nichts gemacht.“