USA | Radikal gewinnt
Die Vorwahlen der Demokratischen Partei sind noch längst nicht entschieden. Doch nach Bernie Sanders’ jüngsten Erfolgen in den Bundesstaaten Iowa und New Hampshire steht fest: Mehr denn je ist der sozialistische Senator in der Favoritenrolle im Kampf um die Nominierung zur Präsidentschaftskandidatur.
Darauf deuten nicht nur Umfragen und Wettquoten hin. Ein weiteres Indiz ist, dass die Verzweiflung des demokratischen Partei-Establishments und seiner medialen Verbündeten lauter wird. Dem liberalen Kommentator Jonathan Chait zufolge wäre es ein „Akt des Wahnsinns“, Sanders gegen Trump aufzustellen. Sanders wäre zu links. Ähnlich sieht das Hillary Clinton. Man brauche eine „klare Perspektive darüber, was man braucht, um zu gewinnen“, statt PolitikerInnen, die „den Mond versprechen“, sagte sie in einer Talkshow. Dass ausgerechnet Clinton – die 2016 von Trump besiegt worden ist – strategische Ratschläge erteilt, ist so unverschämt wie lächerlich. Tatsächlich ist der von ihr und Chait vertretene Lehrsatz, ein rechter Demokrat hätte die besten Aussichten gegen Trump, weit weniger plausibel, als es auf den ersten Blick scheint. Vielmehr würde ein entschiedener Verfechter der amerikanischen Arbeiterklasse wie Sanders viel besser gegen Trump abschneiden als eine moderate Kandidatin/ein moderater Kandidat der Mitte.
Der auch in deutschsprachigen Medien populären Gleichsetzung von Wählbarkeit und ideologischer Mäßigung liegen zwei Vorstellungen zugrunde, die selten hinterfragt werden: erstens eine Vorstellung der WählerInnenschaft als Sammlung von Menschen mit kohärenten weltanschaulichen Bekenntnissen, die auf einem von links bis rechts laufenden linearen Spektrum stehen. Zweitens die Idee, dass Wahlen Wettbewerbe um jene WählerInnen sind, die rund um die Mitte dieses Spektrums angesiedelt sind. Die These lautet dann: Stehen KandidatInnen zu weit rechts oder links, verlieren sie diese WählerInnen an moderatere GegnerInnen.
Diese Vorstellungen waren immer schon fragwürdig. Doch heute ist besonders offensichtlich, dass sie der Wirklichkeit nicht entsprechen. Von wachsender Ungleichheit über die weltweit steigende Zahl an Zuflucht suchenden Menschen bis hin zur voranschreitenden Klimakatastrophe hat sich in den vergangenen Jahren eine Reihe sozialer und ökologischer Krisen zugespitzt. Vielen geht es materiell schlechter als vor der Weltwirtschaftskrise von 2007/2008. Viele blicken weniger optimistisch in die Zukunft als früher. Gleichzeitig haben sich die herrschenden moderaten PolitikerInnen als unfähig erwiesen, diese Krisen zu lösen. Das hat nicht nur zu einem massiven Vertrauensverlust in die angeblich vernünftige Mitte geführt. Es hat auch viele WählerInnen für radikalere politische Ansätze von rechts sowie links ansprechbar gemacht.
Vor dem Hintergrund dieser Polarisierung fand Donald Trumps Versprechen einer radikalen Abschottung („Build the Wall!“, dt. „Bauen wir die Mauer!“) großen Zuspruch. Um ihn 2020 zu besiegen, sollten die DemokratInnen Sanders nominieren. Denn mit seinem Versprechen eines dramatischen Ausbaus des kaum vorhandenen US-Sozialstaates ist er der einzige Kandidat, der zumindest ebenso radikale Lösungen wie Trump anbietet. Für viele wirkt alles andere einfach nicht mehr vertrauenswürdig.
Doch für einen demokratischen Sieg bei der kommenden Präsidentschaftswahl im November dieses Jahres wird ein radikales Wahlprogramm allein nicht ausreichen. Die Partei braucht eine Kandidatin/einen Kandidaten, die/der WählerInnen auf einer emotionalen Ebene anspricht. In den USA gibt es kaum jemanden, der das so gut kann wie Sanders.
Was Chomsky sagt
Noam Chomsky ist einer der bedeutendsten US-Intellektuellen und schärfsten Regierungskritiker, nicht erst seit Donald Trump. Chomsky, 91, findet im Gespräch mit truthout.org klare Worte über die Angriffe auf Bernie Sanders. Dieser setze sich nicht nur „seit Langem für die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung und nicht für die obersten 0,1 Prozent“ ein. Sanders, seine Massenbewegung und seine Ziele seien ein Angriff auf jenes Verständnis von „guter Ordnung“ und „Demokratie“, wie es viele Liberale seit dem 20. Jahrhundert prägt. Demnach sehe sich eine „intelligente Minderheit“ in der Verantwortung, dem Ernst der Lage Herr zu werden. Derweil gestehe sie „Durchschnittsmenschen“ aufgrund deren „Dummheit“ nur zu, alle vier Jahre ein Kreuz zu machen. Danach sollten sie „aber in ihre Fernsehsessel und zu ihren Videospielen zurückkehren“. Chomsky spricht zudem über den Klimawandel sowie Parallelen und Unterschiede zwischen Sanders und Jeremy Corbyn.
Lesen Sie das Gespräch mit Noam Chomsky in deutscher Übersetzung im Netz
Die politische Mitte zerbröselt, weil viele Menschen sich im Stich gelassen fühlen. Während sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern, erkennen sie nicht nur, dass die herrschenden PolitikerInnen wenig dagegen tun. Richtigerweise erkennen sie auch, dass die etablierte Politik vor allem im Interesse der Mächtigen handeln. Das führt zu einer Empörung, die manchmal reaktionäre Formen annimmt. Dieses Gefühl kann aber durchaus auch in eine progressive Richtung gelenkt werden.
Ähnlich wie Trump dient Sanders durch seine leidenschaftliche Rhetorik als Sprachrohr für die gerechtfertigte Empörung, die breite Teile der WählerInnenschaft empfinden. Nur richtet Sanders sie nicht gegen Mexikanerinnen oder Muslime, sondern gegen „die Millionäre und Milliardäre“ – sprich gegen jene, die vom ungerechten wirtschaftlichen System profitieren.
Kaum jemand anderes hat auf derartige Weise vom ungerechten amerikanischen Wirtschaftssystem profitiert wie Donald Trump. Doch letztendlich gewann der milliardenschwere Immobilienmagnat 2016, weil er sich erfolgreich gegen die sozioökonomische Elite der USA positionierte. Das tat er zum einen durch seine radikale Kritik am globalen Freihandel, vor allem jedoch dadurch, dass er durch sein ungehobeltes Benehmen den offiziell akzeptierten Sitten der herrschenden Klasse widersprach. Auch wenn er die materiellen Interessen dieser (seiner) Klasse nie ernsthaft in Frage stellte, konnte sich Trump damit als Freund des „kleinen Mannes“ inszenieren.
Gegen die Lieblingskandidatin der Wall Street, Hillary Clinton, gelang ihm das leicht. Und gegen die meisten demokratischen KandidatInnen, die jetzt noch im Rennen sind, sollte es ihm kaum schwerer fallen. Denn fast alle akzeptieren Großspenden von Milliardären wie ihm. Nur bei Bernie Sanders kann diese Strategie kaum aufgehen.
Sanders lehnt nicht nur Spenden von Lobbygruppen und GroßspenderInnen ab. Er hat auch sein ganzes Leben lang gegen Eliten, wie sie Donald Trump repräsentiert, gekämpft. Als Präsidentschaftskandidat wäre er perfekt dazu geeignet, Trumps „Populismus“ als glatten Betrug zu entlarven – und Amerikas „Landlord-in-Chief“ das Amt abzunehmen.
Es sollte daher niemanden überraschen, dass Sanders seit fünf Jahren in Umfragen zu einer hypothetischen Wahl zwischen den beiden vor Trump liegt. Warum behaupten ParteifunktionärInnen und parteigetreue Medienpersönlichkeiten trotzdem, Bernie Sanders würde gegen Donald Trump verlieren?
Glaubt nicht dem Mainstream
Im Falle hochrangiger Insider der Partei wie Clinton liegt eine Erklärung auf der Hand: Sie verstehen sich als Teil des von Sanders angegriffenen demokratischen Establishments, wollen ihn also stoppen, um ihren Einfluss zu wahren. Da ein Sieg gegen Trump die höchste Priorität demokratischer StammwählerInnen ist, spielen sie Sanders’ Chancen gegen Trump herunter, um ihm in den Vorwahlen zu schaden.
Aber es wäre ein Fehler zu glauben, dass Sanders’ Chancen einfach absichtlich und wider besseres Wissen heruntergespielt werden. Wegen ihrer eigenen privilegierten Klassenposition verstehen vor allem viele JournalistInnen einfach nicht, was Menschen an Sanders anspricht. Sie selbst fühlen sich nicht durch seine Klassenpolitik eingenommen, sie projizieren dieses Gefühl auf die Wählerschaft. Ihre Skepsis gegenüber Sanders’ Wählbarkeit basiert weniger auf analytisch differenzierten Argumenten oder empirischen Daten als auf dieser Projektion.
Als Beobachter der US-Wahlen, sollten wir selbstkritischer sein als die Mainstream-Meinungsmacher. Denn das sind die gleichen Leute, die uns vor vier Jahren erzählten, ein Präsident Donald Trump wäre undenkbar.
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