Zerbrechlich | Manipulativ verletzlich
Triggerwarnung: Für gewöhnlich rahmt ein Vorwort die Ideen, Motive und Ziele eines Buchs ein. Bei einer Übersetzung lässt es eine Sensibilität gegenüber lokalen Kontexten durchblicken. Diese Erwartung enttäuscht der US-Bestseller der weißen Diversity-Trainerin und Soziologin Robin DiAngelo, die Weiße in antidiskriminierendem Verhalten schult. Das Vorwort zu Wir müssen über Rassismus sprechen düpiert Nicht-Weiße hierzulande.
Der deutschsprachigen Leserschaft empfiehlt die Autorin, sie solle die Darstellung aus den USA auf Deutschland übertragen. Hierfür solle etwa der Begriff „Afroamerikaner“ durch „Migranten“ ersetzt werden – eine äußerst problematische Äquivalenzsetzung, die implizit davon auszugehen scheint, dass es keine Afrodeutschen gebe. Die Autorin hätte sich im Vorfeld bei schwarzen Aktivist*innen in Deutschland aufklären lassen müssen, etwa bei ADEFRA e. V. Bei dieser Gelegenheit hätte sie sich über die lange Geschichte der Dehumanisierung von Afrodeutschen informieren können, deren Rassismuserfahrung sich historisch anders situiert als die der hiesigen Gastarbeiter*innen, (Post-)Migrant*innen oder Geflüchteten.
Die Triggerwarnung ist noch nicht vollständig: DiAngelos mangelnde Kenntnis von Deutschland schockiert auch im Haupttext. Die Autorin erläutert anhand von Beispielen aus ihrer Praxis „weiße Fragilität“. Mit diesem Schlüsselbegriff erfasst DiAngelo die Abwehrreaktionen von Weißen, die, konfrontiert mit ihrem Weißsein und dem daraus resultierenden Rassismus, sich vordergründig zerbrechlich geben, aber in Wirklichkeit das Gespräch und die Konsequenzen dieser Erkenntnis meiden.
Eva aus Kapitel 9 etwa ist in Deutschland aufgewachsen und nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA migriert. Sie erzählt DiAngelo, in Deutschland habe es keine schwarzen Menschen gegeben, ergo „habe sie nichts über ‚Rasse‘ gelernt und kenne daher keinen Rassismus.“ Die ersten Schwarzen, denen sie je begegnet sei, seien amerikanische Soldaten gewesen. Die hätten deutsche Frauen so schön gefunden. Statt Eva umständlich zu fragen, ob nicht möglicherweise Hollywoodfilme oder andere US-amerikanische Kulturimporte ein rassistisches Gesellschaftsbild geprägt hätten, hätte DiAngelo sie auf die Rassenideologie der Nationalsozialisten ansprechen müssen. Diese Verbindung während eines Antirassismustrainings nicht herzustellen, stützt letztlich Evas Verleugnungsstrategie. Eva wiederum wäre zu empfehlen, sich, statt ihre neue Heimat mit einem Narrativ von deutscher Tugendhaftigkeit zu belügen, ein Grundwissen der deutschen Gesichte anzueignen und sich zudem über den Genozid der deutschen Kolonialmacht an den Herero und Nama zu unterrichten.
Struktur, nicht Vorsatz
DiAngelo selbst ist etwas lax mit dem Begriff des Genozids. Mit Blick auf die USA spricht sie mal vom „Genozid“ dann vom „versuchten Genozid“ an den indigenen Völkern. Und ein Buch gegen Rassismus muss um jeden Preis verhindern, von „Indianern“ zu sprechen.
In einer Zeit, in der viele Weiße in den USA kontrafaktisch von sich behaupten, sie seien keine Rassist*innen (Amy Cooper im Central Park oder Donald Trump: „I am the least racist person there is anywhere in the world“), gibt DiAngelo klare Orientierung: Alle weißen Menschen sind Rassist*innen. Denn Rassismus beschränkt sich nicht auf Vorsatz. Er ist nicht Ereignis, sondern Struktur. Weißsein wird als menschliche Norm gesetzt und Menschen of Color als Abweichung davon markiert. „Weiße Menschen nehmen Weißsein nicht als privilegierten Status zur Kenntnis, sondern betrachten es als universelle Größe, an der alles zu messen ist.“ Weißsein als gesellschaftlicher Standard übersetzt sich in institutionelle Macht, ökonomische und gesellschaftliche Privilegien. Die systematisch Bevorzugten blenden solche Strukturen aus und führen ihren Status auf individuelle Leistung zurück.
Menschen of Color können zwar auch Vorurteile gegen Weiße haben, aber diese bleiben temporär und kontextabhängig, denn sie stützen sich nicht, so DiAngelo, auf gesellschaftliche und institutionelle Macht. „Einzelne Weiße mögen zwar ‚gegen‘ Rassismus sein“, erklärt die Autorin, „profitieren aber dennoch von einem System, das Weiße als Gruppe privilegiert.“ Dies gilt auch für die sozial benachteiligten Weißen, die gegen viele Hindernisse kämpfen, aber „nicht mit den besonderen Hürden des Rassismus konfrontiert sind“.
Kapitel für Kapitel beschreibt DiAngelo, wie ihre weißen Kursteilnehmer*innen sich sträuben, Vorteile oder gar ihr Weißsein einzugestehen. Stattdessen fahren sie ihre Schutzreaktionen hoch, durchleben so etwas wie die fünf Sterbephasen nach Kübler-Ross. Weiße Fragilität offenbart sich als ein Nicht-wahrhaben-Wollen, etwa wenn Teilnehmer*innen ihre politischen Aktivitäten aus den 1960ern oder afroamerikanische Freund*innen anführen. Aber so vereinfachen sie Rassismus, der mehr ist als bewusste Intoleranz. Diese Vereinfachung zeigt sich als Zorn: „Als Weißer kann man doch gar keinen Job mehr kriegen!“ Weiße suggerieren, sie seien die wahren Opfer von Diskriminierung. Und es fließen Tränen, wenn das schwarze Leid den Weißen rührt. DiAngelo lässt sich davon nicht erweichen. Denn die „weiße Zerbrechlichkeit“ erscheint zwar vordergründig als Empfindlichkeit und Schwäche, tatsächlich ist sie Mittel zur Wahrung von Privilegien.
Als Gegengift zur manipulativen Zerbrechlichkeit empfiehlt Robin DiAngelo den Weißen, sich selbst aus der unausweichlichen Dynamik des Rassismus nicht auszusparen und sich belastbarer zu machen für eine kritische Analyse der weißen Identität.
Als White Fragility (so der Originaltitel) erschien, wiesen Kritiker*innen zu Recht auf eine für den Buchmarkt und den Wissenschaftsbetrieb typische Asymmetrie hin: Mehrheitlich scheinen die Weißen nur dann in der Lage zu sein, sich mit dem strukturellen Rassismus zu beschäftigen, wenn sie von weißen Autor*innen dazu angeleitet werden – auch wenn deren Wissen auf den jahrelangen mühsamen Forschungen von BIPoC-Autor*innen basiert. DiAngelo verwandelt deren Erkenntnisse in einträglichen Gewinn, sei es als symbolisches, kulturelles oder ökonomisches Kapital. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn sie diese Form des strukturellen Rassismus in ihrer Publikation mitreflektiert hätte. Statt den Begriff der „weißen Fragilität“ wie ein Markenlabel einzuführen, wäre es hilfreich gewesen, ihn stärker im transdisziplinären Studienfeld rund um das „Weißsein“ einzubetten. Bei der Gelegenheit hätte DiAngelo auch auf die Leistungen der Sozial- und Kulturanthropologin Gloria Wekker eingehen können, die bereits 2016 in ihrem Buch White Innocence das Machtkalkül hinter der weißen Unschuld aufgedeckt hat.
Info
Wir müssen über Rassismus sprechen. Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein Robin DiAngelo Ulrike Bischoff (Übers.), Hoffmann und Campe 2020, 224 S., 25 €
Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.