Corona-Demo | Hipster sind es wohl nicht
An diesem 1. August 2020 kommt auf der Straße des 17. Juni in Berlin zusammen, was sich bisher regional recht unterschiedlich präsentierte: ein politisches Milieu, das sich selbst gerne als „Querdenker“ oder „Corona-Rebellen“ bezeichnet und aus verschiedenen Gründen mit den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung nicht einverstanden ist. Wer die Ausdrucksmittel und Überzeugungen dieses Milieus betrachtet, könnte den Eindruck gewinnen, dass man es mit dem schillernden Zerfall des Politischen zu tun hat. Hier passt nichts zusammen: Müssten sich die Demonstrierenden auf einen Gesellschaftsentwurf einigen, wäre heilloses Hauen und Stechen angesagt. Wenn das Wesen des Politischen allerdings in der Freund-Feind-Unterscheidung liegt, dann folgt diese Bewegung der Logik des Politischen. Der Feind ist klar, es ist die Regierung, personifiziert in Angela Merkel. Dem gesellt sich das seit der Pegida-Bewegung bekannte Feindbild der „Lügenpresse“ hinzu und massive Zweifel, oft blanker Hass gegenüber einer als Expertokratie empfundenen Gruppe von Medizinern, die dank der Corona-Krise eine neue gesellschaftliche Bedeutung erhalten hat, zuvorderst der Virologe Christian Drosten. Bei sehr vielen Demonstrierenden spielt die Furcht vor einer Impfpflicht eine große Rolle, ein kleinerer Teil sieht verschwörerische Kräfte nicht nur in der Corona-Krise, sondern als gesellschaftliche Grundsituation am Werk, Kräfte, die von Bill Gates bis zu einer ominösen „New World Order“ reichen.
In einem Aufruf zur Demonstration war von einer „kommunistischen Diktatur“ unter Angela Merkel, die es zu verhindern gebe, die Rede; einer der vielen Irrsinnsmomente, die in der Bewegung nicht nur Platz finden können, sondern sie prägen. Umgekehrt ist neben „Wir sind das Volk“ eine der beliebtesten Parolen auf der Berlin-Demo „Freiheit“. Nicht wenige Demonstrierende wähnen sich in einer Diktatur, tolerieren aber jene, die offen bekunden, eine autoritäre Herrschaft, irgendein „Reich“ oder anderes anzustreben.
Friedenstauben gen Moskau
Ich komme Unter den Linden an. Der Demonstrationszug formiert sich. Es ist fast alles dabei: klassische Familien mit Kindern, der jugendliche Hippie, den man früher auch auf einer Goa-Party hätte treffen können, einer trägt ein Minor-Threat-T-Shirt, musikalische Helden meiner Jugend. Ansonsten alles sehr bürgerlich, allerdings ästhetisch ärmlich. Mittvierziger mit Sandalen und komischen Hosen, Pegida-Style. Mit dem Soziologen Pierre Bourdieu könnte man sagen, dass hier ein Milieu mit geringem kulturellen und besonders wenig ästhetischem Kapital unterwegs ist. Es hat wenig Möglichkeiten, sich den Anschein von Hipness oder modischer Coolheit zu geben. Vieles erinnert an die Gelbwestenbewegung in Frankreich. Auffällig ist die rein weiße, hier sehr deutsch-kartofflige Zusammensetzung der „Corona-Rebellen“.
Aus dem Rahmen der proletarisierten Kleinbürger*innen fallen die vielen „Friedensfahrzeuge“, die den Umzug begleiten. Diese verweisen auf ein bürgerliches Milieu mit kaum größerem ästhetischen, aber deutlich mehr ökonomischem Kapital. „Frieden mit Russland“ ist auf den Fahrzeugen zu lesen, eine Parole, die auch auf vielen T-Shirts steht. An einigen der Wagen hängen Ballons mit dem alten Friedenstauben-Symbol. Waren die Friedensbewegten der 1980er Jahre jedoch skeptisch gegenüber der automobilen Gesellschaft und – auch wenn sie aus dem Bürgertum stammten – antibourgeois, ökologisch und staatskritisch eingestellt, so sind die heutigen Friedensfahrzeugbetreiber autobegeistert, gutbürgerlich und affirmieren die polizeiliche Exekutive bereits im Design ihrer Autos.
Das passt zu der von den Veranstalter*innen auf der Samstagsdemo bekundeten Haltung. Sie signalisierte eine hohe Bereitschaft, mit der Polizei zu kooperieren. Neben empörten „Pfui!“-Rufen, wenn Polizisten auftauchen, hört man auch ein „Schließt euch an!“. Vor dem Hintergrund eines hohen Anteils von rechten Strukturen innerhalb der deutschen Polizei wundert diese Affinität nicht.
Ich gerate zufällig in eine Situation am Rand der Demo, in der zwei türkischstämmige Kommunisten, die sie offensichtlich kritisch-agitatorisch begleiten, in einem Streit mit einer älteren Frau liegen. „Welche Informationen werden Ihnen denn vorenthalten?“, will der Kommunist laut wissen, die Frau raunt, die Medien seien gleichgeschaltet, Corona sei doch nur eine Grippe, und immer wieder Drosten.
Die Frau wirkt allerdings defensiv. Ich schalte mich ein. Plötzlich bricht aus ihr heraus, sie sei ständige Bibliotheksbesucherin, in ihrer Heimatstadt wäre diese ewig geschlossen gewesen. Ich erinnere mich, wie die Freundin eines Freundes als Bibliotheksangestellte davon berichtete, dass es gut zwei Dutzend quasi wohnungslose Bibliotheksbesucher gebe, die die Schließung der Bibliotheken während des Lockdowns schwer traf. Hinter dem kaum ertragbaren Jargon der Corona-Maßnahmen-Kritiker*innen liegen bittere Erfahrungen und soziale Realitäten.
Zwei Frauen haben auf ihre Maske „Höhere Löhne“ gemalt. Ich spreche sie an, sage ihnen, dass sie die einzig vernünftige Parole, die ich hier gesehen habe, ausgeben. Sie freuen sich. „Ja, denn nur so kommt unsere Gesellschaft wieder voran und nur so bekommen wir einen Aufschwung hin“, erklärt mir die eine. Ich freue mich nicht. Hier sprechen keine selbstbewussten Arbeiterinnen, die ihr Klasseninteresse durchsetzen wollen. Nicht nur der Marxismus, auch jede kämpferisch-gewerkschaftliche Haltung ist vollkommen abwesend.
Immer wieder sehe ich allerdings einzelne Leute, die in vergangenen Zeiten bei linken Demonstrationen hätten dabei sein können, es vielleicht auch waren. Die radikale Linke ist natürlich abwesend. Keine einzige linke Parteifahne. Hier mal ein Vereinzelter, der vielleicht Anfang der 1990er Jahre in einer alternativen Wagenburg hätte sitzen können, er trägt das T-Shirt „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren“ ...
Zwei, drei Wagen sind der jugendlichen Partysubkultur zuzurechnen. Ein Wagen trägt Aufschriften des Techno-Kollektivs Nürnberg, ein anderer hat als Symbol ein verschlungenes Herz und ein Peace-Zeichen, eine Gruppe namens Freedom-Parade agitiert gegen Masken- und Impfpflicht. Darüber ist ein durchgestrichenes Hakenkreuz zu sehen. Und auch bei einem Wagen, der sich für die freie Wahl des Urlaubs („Free Vacation Decision“) starkmacht, prangert in buntem Rot-Gelb-Grün „Reggae gegen rechts“an der Seite.
Aufruf zum Bündnis
Später tanzten zwei splitternacke Hippies, die mich an Leute aus der „Fuck for Forest“-Szene erinnern, eine dunkel gekleidete Gruppe von mittelalterlichen Männern an, die eine gigantische schwarz-weiß-rote Reichsfahne tragen, eine von rund einem Dutzend Fahnen, die ich auf der Demo gesichtet habe. Die Reaktion: Lachen auf beiden Seiten, Verbrüderung der hippiesken Nackten mit den Reichsbürgern. Der Ansager aus dem Lautsprecherwagen des leitenden Demonstrationswagens hatte davor wiederholt auf die Kaiserreichsfahnen aufmerksam gemacht: „Wir sehen hier einige Reichsfahnen. Das wird für die Presse wieder ein Anlass sein, von Rechten, Verschwörungsideologen und Antisemiten auf der Demo zu sprechen. Aber wir lassen uns nicht spalten. Die wahren Faschisten sitzen in der Regierung.“ Überschnappende Stimme. Applaus. Das ist nicht nur keine Distanzierung, das ist der Aufruf zum Bündnis mit Rechten.
Mitten in der Demo läuft eine Gruppe älterer Frauen; sie könnten auch als „Omas gegen rechts“ am Rand der Demo stehen und gegen die Demo anpfeifen, doch sie sehen offensichtlich in den Corona-Maßnahmen eine so gravierende Einschränkung von Grundrechten, dass die Beteiligung zwingend ist. So sind sie Teil der Demo. „Nie wieder Krieg, Faschismus und Diktatur“ steht auf ihrem großen Transparent, und „Hier keine Bühne für AfD Pegida, Nazis“, „Gib Rassismus keine Chance“, „Wer in der Coronakrise schläft, wird in der Diktatur aufwachen“. Hinter und vor ihnen ist eine Lücke, mit ihrer klaren Abgrenzung nach rechts wirken sie wie ein Fremdkörper. Einen dicklichen, stark alkoholisierten Reichsfahnenträger frage ich naiv, wofür die Fahne steht. Antwort: „Fürs Kaiserreich!“ – „Und da zurück willst du hin?“ – „Ist doch besser als das, was wir jetzt haben“, erklärt er kumpelhaft und zieht lachend weiter. Davor hatte er genauso lachend lustigen Kontakt mit Demoteilnehmern, die Heavy-Metal-T-Shirts tragen. Wenige Minuten später erblicke ich zwei 30-Jährige mit Button der Identitären. Bereits zu Beginn der Demo waren stark tätowierte Nazi-Rocker mit Familienanhang zu erblicken.
Psychisch tangiert
Der fast nur massenpsychologisch zu erklärende irrationale Hass auf die „Lügenpresse“ ist entkoppelt von jeder tatsächlich angebrachten Kritik an der Macht der Medien und der Bewusstseinsindustrie. Die Presse (z. B. Tagesschau, heute-journal, Printmedien) wird später differenziert und ausgiebig über die Demonstration berichten. Einzig bei der Einschätzung der Teilnehmerzahl orientiert sie sich zu stark an der Polizeiangabe. Auf pejorative Marker und Verallgemeinerungen wie „Querfront“ oder „Verschwörungsideologen“ (deren Vertreter als Einzelne sicherlich anwesend waren) wurde anders als zuvor verzichtet. Sicherlich wurde die Anzahl anwesender Rechter stark betont, aber es kamen auch vollkommen „normale“ Demonstrant*innen zu Wort. Die gegebene Heterogenität der Demonstration wurde in den Medienberichten benannt, ihr breiter normal-bürgerlicher Bauch wurde sichtbar und in den präsentierten Bildern eingefangen. Das war in der Vergangenheit durchaus anders, als Medien gern von „Extremisten“ sprachen.
Eine Beobachtung auf dieser Demo belastet mich, sie ist schwer kommunizierbar. Viele Menschen, die sich hier zusammenfinden, wirken psychisch tangiert. Abgesehen von den wenigen, die wohl tatsächlich im klinischen Sinn ver-rückt sind, meine ich, bei vielen Demo-Besucher*innen ein sichtbares Leiden erkennen zu können. Ich weiß, dass das anmaßend klingt. Aber es gab im Zuge von 1968 ein Wissen aufseiten der Linken, dass der Kapitalismus die Zwischenmenschlichkeit zerstört. Zumal die kritische Theorie hob darauf ab, dass diese Verhältnisse die Menschen zu deformierten Individuen machen. Die Psychoanalyse als kritische Wissenschaft könnte hier Aufklärung liefern. Bestimmte Alltagserfahrungen sind tabuisiert. Verletzungen und Kränkungen nehmen im neoliberal verhärteten Kapitalismus zu. Wo das Ich souverän regieren, die überfordernden Verhältnisse meistern soll und der Einzelne auf sich zurückgeworfen ist, sucht er ein Wir. Identität lässt sich nur über Alteritäten scheinbar festigen. Tatsächlich ist der Anteil derjenigen unter den Demonstrierenden, die ein Liebesbedürfnis artikulieren (die Massierung an Herzchen und Liebesbekundungen reicht an Woodstock und die Loveparade heran) und gleichzeitig eine unbändige Wut und einen Hass in sich tragen und diesen auch bekunden und sich Objekte ihrer Aggressionen schaffen (Regierung, Lügenpresse, Bill Gates, Drosten), erschreckend hoch. Ich denke, einige kritische Psychologen und Psychoanalytiker haben es verpasst, auf dieses artikulierte Leid in der Bewegung zu reflektieren, gesellschaftlich-politisch auch darauf einzugehen. Sie haben sich zuweilen selbst zu einfachen Lautsprechern dieser Menschen und ihrem Leiden gemacht und ihr Gestammel nur notdürftig intellektuell aufgebürstet.
Ein, zwei eher intellektuelle Alt-Linke sind auch auf der Demo zu erkennen: Einer schiebt sein Fahrrad und hat den Satz von Hannah Arendt „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ auf ein Schild gemalt. Ein anderer hält das Schild hoch: „Der Hobbes’sche Leviathan wird gefüttert durch unnötiges Tragen von Masken! Diese Nebenwirkung der Maske ist den meisten Benutzern unbekannt.“ So verkehrt sich Aufklärung in ihr Gegenteil.
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