Kritik an Berichterstattung: Warum die Lobpreisung der Annalena Baerbock gefährlich ist
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Vor einer Woche wurde Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin der Grünen gekürt – begleitet von viel Begeisterung und wenig Distanz seitens vieler Medien.
Die Ausrufung von Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin der Grünen vor einer Woche hat vieles losgetreten – auch unreflektierte Begeisterung. Über eine potenzielle Kanzlerin ausführlich zu berichten, ist richtig und wichtig. Schließlich ist sie, Stand heute, die womöglich aussichtsreichste Kandidatin. Aber: Sie ist nicht allein. Sie ist eine von Dreien.
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Gelitten hat die Objektivität
Statt nüchtern und objektiv über Baerbocks Stärken und Schwächen, ihre Haltung und ihre Kompetenz zu sprechen, wurde sie vielfach zur Heilsbringerin erklärt: "Die Überlegene" schreibt die "Zeit". "Die Frau für alle Fälle" prangt es auf dem "Spiegel"-Cover. Und auch auf dem aktuellen stern-Titel heißt es: "Endlich anders". Die Geschichten lesen sich am Ende deutlich distanzierter als es die Überschriften vermuten lassen. Doch wie so oft gibt es keine zweite Chance für den ersten Eindruck. Gelitten hat dabei am Ende vor allem die Objektivität – jenes höchste Gut, dass die Messlatte für jede Form der Berichterstattung sein muss. Einen Kandidaten, eine Kandidatin – egal welcher Partei – zu lobpreisen, verschafft all jenen Munition, die dem Journalismus seit langem Meinungsmache vorwerfen. Natürlich darf (und soll!) jeder Journalist eine Meinung haben. Das bleibt als politisch denkender Mensch nicht aus. Doch: Eine Meinung kommt selten allein.
Gefangen in der eigenen Blase?
Der Branche nun einen kollektiven Drang ins Grüne zu unterstellen, wäre dennoch falsch. Sympathie ist nicht der Tod der Skepsis. Hätten die Grünen die Maskenaffäre zu verantworten, wäre die journalistische Kritik verheerend ausgefallen. Problematisch würde es erst dann, wenn Haltung zum alleinigen Antrieb wird – egal ob von rechts oder links. Das passiert häufig dann, wenn die eigene Blase zu bequem wird – im echten wie im digitalen Leben. Twitter ist eine solche Petrischale der Engstirnigkeit. Der Tenor dort: Entscheide dich! Wenn du nicht dafür bist, bist du dagegen! Doch Twitter ist nicht Deutschland.
Die unterschiedlichen Bedeutungen des Wandels
Laut aktuellen Umfragen wollen fast 30 Prozent der Wahlberechtigten für die Grünen stimmen – 70 Prozent aber eben nicht. Dass eine Landwirtin in Westfalen ganz andere Ansichten zu Klimaschutzmaßnahmen, ein Maler im Heidenheimer Vorort vom Gendern noch nie gehört oder eine alleinstehende Rentnerin womöglich andere Prioritäten als den Ausbau von E-Tankstellen hat, bleibt oft unerwähnt. Vielleicht wäre Annalena Baerbock die Kanzlerin, um einen Wandel zum Besseren einzuleiten, das sei an dieser Stelle keineswegs ausgeschlossen. Doch genau wie die Sympathie ist der Wandel etwas sehr Subjektives. Journalismus sollte die Gesellschaft ab-, nicht bebildern.
Auch Martin Schulz stürzte ab
Wie ein solcher Höhenflug enden kann, weiß einer sicherlich noch allzu gut: Martin Schulz. Im Laufe des Bundestagswahljahrs 2017 avancierte er zum modernen Ikarus. Zu Beginn war Schulz die große Hoffnung einer am Rande der Bedeutungslosigkeit balancierenden Volkspartei. Er sollte der SPD ihre Identität wiederbringen. Am Ende entgleiste der "Schulz-Zug" – die Partei fuhr mit 20,5 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis der Nachkriegszeit ein. Aus ihrer Identitätskrise hat die SPD bis heute nicht herausgefunden. Dass die Grünen mit Annalena Baerbock im Herbst eine ähnliche Bruchlandung hinlegen, ist unwahrscheinlich. Zu unterschiedlich sind die Umstände, die Themen, der Zeitgeist. Auch sind sie nicht so abhängig von ihrer Kandidatin wie einst die SPD. Doch wer hoch fliegt, kann auch tief fallen.