Hirschberg: Russin Natalie Meyer ist in der Region angekommen
Von Marco Partner
Hirschberg-Großsachsen. Manche wohnen ein Leben lang am selben Ort, manche ziehen in die Nachbarstadt, wieder andere in ein anderes Bundesland. Natalie Meyer könnte viele Lebensstationen aufzählen. Kleine Ortswechsel zwischen Handschuhsheim, Schriesheim, Dossenheim und Hirschberg genauso wie große Sprünge über einen halben Kontinent. "Der 2. Mai 1995, das war für uns wie eine neue Zeitenrechnung", sagt die 44-Jährige heute. Damals stand die gebürtige Russin als 18-Jährige mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder am Frankfurter Flughafen. Und suchte erst einmal den "Ausgang" als Eintritt in ein neues Leben.
An ihre Kindheit denkt Natalie Meyer gerne zurück. Was für ihre deutschen Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg als Kriegsgefangene und Zwangsarbeit im Uranabbau in einer geheim gehaltenen Stadt begann, bedeutete für die Enkelin das Paradies. Ganz im Südosten der Sowjetunion, an der Grenze zu China wuchs sie in den 1980er-Jahren in Kirgisistan auf. "Es ist fruchtbares Land, mit viel Sonne, kaum Schnee und Obstbäumen auf dem Weg zur Schule. Heute habe ich wirklich eine paradiesische Vorstellung davon, mit neun Monaten Sommer und nur drei Monaten für Herbst, Winter und Frühling", verrät sie.
An den Ausläufen des Tianshan-Gebirges gelegen, wurden die wilden, schäumenden Flüsse von Gletscherwasser gespeist. Urlaub brauchte es da nicht, die Sommerferien verbrachte sie ab und an am Yssykköl, dem zweitgrößten Gebirgssee der Welt. Doch mit dem Zerfall der Sowjetunion, mit Unruhen und Liberalisierungsbewegungen musste sie ihre Heimat 1990 Hals über Kopf verlassen. Von einem Ende der UDSSR ging es ins andere: nach Syktywkar im europäischen, aber auch sehr kalten Teil, wo ihre Mutter aufwuchs und Familie hatte. "Auf einmal hat es sich umgedreht: Plötzlich waren es gefühlt neun Monate Winter", erklärt sie. Bis zu minus 40 Grad kann es im Nordwesten Russlands werden, meterhoch Schnee liegen – und von Anfang an war klar: Es wird nur eine Zwischenstation.
Bereits 1990 beantragte die deutschstämmige Familie eine Ausreise nach Deutschland. Letztlich zogen bis zur Bewilligung jedoch ganze fünf Jahre ins Land. Einmal noch besuchte sie ihre alte Heimat und tauchte in die sommerlichen Erinnerungen ihrer Kindheit ein. Sonst hielt sie mit ihren Freundinnen in Kirgisistan über Briefe Kontakt und schwankte ob der bevorstehenden großen Deutschland-Reise zwischen Jubel und Ungewissheit. Bis auf einmal der besagte Mai 1995 vor der Tür stand. "Man hat sich für immer von den Freunden verabschiedet. Und die große Frage war: Was kommt da eigentlich auf uns zu?", erinnert sich Meyer.
Mit nur einem Koffer kamen die 18-Jährige, ihre Mutter und ihr kleiner Bruder am Flughafen in Frankfurt an. Und suchten erst mal vergebens den Weg nach draußen. "Ich hatte wirklich schon viele Deutsch-Stunden hinter mir, aber ich wusste einfach nicht, was Ausgang heißt", sagt sie heute lachend. In Rottweil besuchte sie ein Gymnasium und machte das Abitur. "Seit meiner Ankunft in Deutschland bin ich von ganz wunderbaren Menschen begleitet worden", betont sie. Nach dem Abi pflegte sie den ehemaligen Rektor ihrer Schule. "Er schwärmte von Heidelberg und sagte, ich müsste dort studieren."
Und tatsächlich setzte Meyer die Idee in die Tat um. Sie studierte Jura, lernte ihren Mann kennen und fühlt sich an der Bergstraße heimisch. Doch wie am Schnürchen gezogen, wie es in der Rückschau manchmal klingt, lief es auch für sie nicht. "Es ist wellenförmig mit Aufs und Abs. Am Anfang wollte ich noch oft zurück nach Russland, irgendwann lässt die Sehnsucht nach. Ich bin angekommen", erklärt sie. Vor 13 Jahren war sie zuletzt in ihrem Heimatland. Nicht im mittlerweile selbstständigen Kirgisistan, sondern im kalten Norden.
Aufgrund der digitalen Kontakte habe das Verlangen der unmittelbaren Begegnung abgenommen. "Früher stand ich noch mit einem Fünf-Mark-Stück in der Telefonzelle, für zwei Minuten Ferngespräch", erinnert sie sich.
Heute hält sie mit WhatsApp den Kontakt zu den einstigen Klassenkameraden. Einige wohnen auch in Deutschland verstreut, andere haben Kirgisistan nie verlassen. Seit 26 Jahren lebt Natalie Meyer nun schon in Deutschland. "Länger als in Russland. Im Herzen ist mehr Platz als nur für eine Heimat. Ich würde von mehreren Heimatorten sprechen, auf jeden Fall habe ich eine russische Seele", erklärt sie.
Auch ihre vier Kinder zieht sie zweisprachig auf. Und würde ihrer Familie gerne einen großen Reisewunsch erfüllen. Drei oder vier Wochen in das Land ihrer Kindheit. Nicht als Touristin, sondern um Freunde und Verwandtschaft zu besuchen, sich als Einheimische zu fühlen. In der Hoffnung, dass sich zumindest landschaftlich nicht allzu viel verändert hat. Meyer: "Ich bin schon gespannt, ob die Vorstellung im Kopf noch mit der Realität übereinstimmt."