Roman | „Sie und Bob“: In Dänemark haben Helle Helles Bücher Kultstatus
Wenn man Helle Helle am Morgen in einer stillen Ecke der Hotellobby fragt, ob sie sich als politische Schriftstellerin versteht, zuckt etwas ganz kurz unter ihrem Gesicht. Sie will antworten, aber auch: über die Frage nachdenken. Am Abend hatte sie im großen Saal der nordischen Botschaften in Berlin ihre Romane Sie und Bob vorgestellt, beide erscheinen gerade auf Deutsch, vereint in einem Band. Kann man so machen, die Geschichte der Tochter, die ihre Mutter an Krebs verliert, geht später in Kopenhagen weiter.
Vorab grüßte die stellvertretende dänische Botschafterin – als Fan aus dem Süden des Landes. Das ist schon ein klitzekleiner Hinweis auf eine Eigenheit von Helle Helles Romanen: Ihr Personal kommt aus einer Region Dänemarks, die im modernen, weltgewandten Bild des Landes wenig stattfindet. Im Süden ist der Niedergang der Landwirtschaft ein handfestes Problem, einfache Jobs im Dienstleistungssektor müssen oft eine Lebensperspektive bieten. Ihre Romane spielen in einer sozialen Geografie, die öfter übersehen wird.
Helle Helle, 1965 auf der flachen und badestrandlosen Insel Lolland geboren, aufgewachsen in Rødby, in der „dänischen Südsee“, trägt am nächsten Morgen einen ähnlich eleganten schwarzen Onesie, dieselben nagelneuen Turnschuhe wie am Vorabend. Sie erzählt von ihrem ersten, ihrem zweiten Roman, der bangen Frage, ob es einen dritten geben würde. Gab es. Irgendwann fühlte sie sich freier in der Wahl ihrer Mittel, freier auch darin, ihrer Sprache zu vertrauen.
Aber nun, politische Literatur? Helle Helle zögert. Die hat oft einen unguten, pädagogisierenden Beigeschmack, riecht nach strenger Konzentration auf einen moralisch eindeutigen Plot. Oft schimmern dann Thesen durch ein dünnes literarisches Kleid. Man kauft sich damit viel vom „julizehschen Universum“ ein. Helle Helle ist in Dänemark bekannt, sehr sogar: Ihre Bücher sind Bestseller, sie wird mit Preisen behängt. Nur käme niemand auf den Gedanken, dass sie Thesenromane produzieren würde. Im Gegenteil, hin und wieder fragen bekannte Kritiker, woraus denn eigentlich ihre Literatur besteht, ein richtiger Plot sei ja nicht zu erkennen.
Das ist natürlich falsch, es passiert viel – nur durchmessen ihre Romane weniger offensichtliche Plotlinien, arbeiten sich nicht vor zu einem absehbaren Ziel. Sie erkunden emotionale Landschaften. Sie und Bob sind beides Romane über Auflösungen. Phasen, Arrangements, Zusammenhänge vergehen – die Jugend der Tochter, immer mehr ihrer Freunde machen sich Gedanken, wohin sie ziehen müssen, um eine Ausbildung zu verfolgen, um weiterführende Schulen zu besuchen. Und die Lebensspanne der Mutter neigt sich, gleich im zweiten Kapitel bemerkt sie „wohl einen Stein verschluckt“ zu haben, einen schweren sogar. Es ist der dritte April, ein Tag, an dem es noch den Wintermantel braucht, so kalt ist der Wind. Die Tochter begleitet die Mutter auf Spaziergängen, im Alltag, bei Krankenhausaufenthalten. Das ist nüchtern gehalten, nebenbei geschildert, nirgends glimmt Pathos.
Helle Helles Romane setzen darauf, dass wir als Leser*innen sachte Andeutungen verstehen, während sich Mutter und Tochter durch das Leben mit der Krankheit tasten. Das befreit die Erzählung von stumpfer Erklärerei: Das Wort Krebs taucht in der Erzählung nicht auf. Dafür muss man nah an den zurückgenommenen Duktus rücken, um zarte Hinweise und Stimmungsschwankungen nicht zu verpassen: Gleich nachdem die Mutter anzeigt, wo der Stein liegt, unterhalb der Brust nämlich, „gehen sie weiter zum See. Dort zeigen sich im Gesträuch verstreute Krokusse, aber sie machen sich nichts aus Krokussen.“
Solche unausgesprochenen Kleinigkeiten, abgebrochenen Gesten, das Aussparen und Umschiffen der großen Themen ziehen uns in die Welt einer unzuverlässigen Erzählerin, in eine Mutter-Tochter-Beziehung, deren Fragilität nie besprochen, aber spürbar wird. Auch für die soziale Geografie reichen Andeutungen, die Mutter arbeitet gelegentlich, sie müssen häufig umziehen, die Dinge sind kompliziert. Helle Helle spart sich dramatische Gesten, Familie kreiert eine Normalität, die wir erst bewerten, wenn wir von außen draufschauen.
Fortwährende Gegenwart
Im Binnenverhältnis bekommen Nebensächlichkeiten mehr Raum als die gleichzeitig konkrete und abstrakte Nachricht von der tödlichen Krankheit. Als das Telefon klingelt, nimmt die Tochter ab, eine Krankenschwester erzählt vom Stand der Dinge: „Die Patientin scheint sehr erstaunt über die Schwere der Krankheit. Ihre Mutter kommt mit zwei Kartoffeln ins Wohnzimmer gelaufen. Sie merkt, dass ein Telefongespräch stattfindet, und geht leise wieder. Jetzt wechselt die Musik, ihre Mutter singt weiter mit. Linderung ist möglich, Heilung nicht. Ihre Schultasche steht auf dem Boden, sie sitzt davor, mit dem Rücken zum Rest des Wohnzimmers. Es kann noch ein halbes Jahr sein, vielleicht ein ganzes. Dann ist Zeit fürs Essen. Also essen sie.“
Der Roman ist in einer Art andauerndem Präsens komponiert. Ein Kunstgriff, der gelegentlich verblüffende, grammatikalisch ruckelige Sätze bedeutet: Hineingebaute Stolperfallen, die darauf hinweisen, dass die Tochter und wir alle eine derart existenzielle Phase, den angekündigten Tod, in fortwährender Gegenwart erleben.
Auch die Erzählhaltung in Bob ist sorgsam durchdacht. Bob, der mit der Tochter nach Kopenhagen gezogen ist, bekommt seine Geschichte, sein empfindsames Herumirren in der Stadt erzählt. Und zwar von seiner Freundin, die zugleich in der Beziehung immer abwesender wird: Hat sie sich in ihr Studium und ins Stadtleben gestürzt? Vermutlich, denn wie spät auch immer Bob von seinen Streifzügen zurückkommt, „die Wohnung lag im Dunkeln“.
Aber das ist nicht entscheidend – wir folgen ihm durch die Wunderwelt der neuen Straßennamen und -verläufe, er verhält sich wie zu Hause auf dem Land, grüßt Fremde, kämpft gegen die Unbehaustheit eines Stadtlebens, in das er eher hineingeraten ist. Auch wenn er offensichtlich strahlend attraktiv ist, raubt die Stadt ihm den Mut, schließlich alle Kraft. Als er mit einer Kollegin spazieren geht, fasst Helle Helle all die Misere seines Stadtlebens zusammen: „Bob hielt nach bestem Vermögen Schritt. Als er sich selbst in einem der wenigen Schaufenster sah, bemerkte er, dass er vor lauter Mithalten ganz vornübergebeugt lief.“
Helle Helle wurde in Deutschland mit Rødby-Puttgarden (Dörlemann, 2010) bekannt, im Original erschien der Roman fünf Jahre früher. Man kann ihn wie einen literarischen Beitrag zu zeitgenössischen Debatten über die „vergammelte Banane“ lesen, den Halbkreis, mit dem sich Dänemark im Süden streckt. Steigende Insolvenzen, schließende Geschäfte waren die schwarzen Flecken. Die Region schien immer weiter von der glitzernden Zukunft in modernen Städten wegzurücken.
Das Personal, obwohl es auf Fährschiffen arbeitet oder grade so durchs Leben kommt, interessiert sich allerdings für Sprache und Umgangsformen, Frauen wollen beim Namen genannt werden. Trotzdem brennt Helle Helle keine klassenkämpferischen Fackeln ab, all das spiegelt sich in subtilen Beobachtungen – als Bob und seine Freundin in die Stadt ziehen, sieht die Erzählerin, dass sie nun Stabparkett haben. Die Andeutung öffnet einen Blick auf fast vergessene Klassenschranken: In Skandinavien waren zum Ende des vorvergangenen Jahrhunderts die allermeisten Wohnungen in so schlechtem Zustand, dass Behörden beschlossen, Schuhschränke am Eingang vorzuschreiben, die Böden sollten sich nicht weiter abnutzen. Großbürgertum und Aristokraten hatten Geld für festes Parkett und Personal, das ständig Böden wischte. Alle anderen laufen seitdem auf Strümpfen.
Nein, antwortet Helle Helle in der Hotellobby auf die Frage nach der Politik in ihrer Literatur. Dann sagt sie: doch. Es sei einfach und kompliziert: „Ich schreibe über das, was ich kenne. Über die Region, das Gewicht, das Menschen dort mit sich herumtragen. Über Umstände, in denen ich aufwuchs. Als Tochter einer alleinerziehenden Mutter im Süden. Als Teil einer Arbeiterklasse.“ Sie wurde oft zu Veranstaltungen über die vergammelte Banane eingeladen, sollte auf Podien dazu sprechen, es wäre um Moral und Empörung und Politik gegangen. Sie hat stets abgelehnt.
Sie und Bob Helle Helle Flora Fink (Übers.), Dörlemann Verlag 2022, 352 S., 28 €
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