Showdown in Brasilien: Gewalt, Anschläge, Betrugsvorwürfe: Wohin mit all dem Hass, wenn der Präsident verliert?
Kurz vor der Stichwahl in Brasilien ist die Stimmung bis zum Zerreißen gespannt. Wer wird sich am Ende durchsetzen – der linke Ex-Präsident Lula oder der rechtsextreme amtierende Präsident Bolsonaro? Und was passiert, wenn Letzter das Wahlergebnis nicht anerkennt?
In diesen letzten Tagen schlugen noch mal geballt all solche Nachrichten ein, die diesen Wahlkampf schon seit Monaten begleiten:
- Ein Kandidat für das Abgeordnetenhaus wird in São Paulo auf offener Straße erschossen.
- Ein Bolsonaro-Anhänger attackiert die Polizei mit Handgranaten.
- Bolsonaros Sohn Flavio, selbst Politiker, spricht drei Tage vor der Stimmabgabe vom "größten Wahlbetrug aller Zeiten".
- Und Bolsonaro selbst behauptet erneut, dass er in dem Wahlprozess und von den Medien "stark benachteiligt" werde. Schon rufen seine Alliierte im Senat dazu auf, die Wahl zu verschieben.
Gewalt, Anschläge, Betrugsvorwürfe. Und vor allem: Verbale Attacken. Bolsonaros Seite beschimpft Lula als Kommunisten und Satanisten. Lulas Seite beschimpft Bolsonaro als Kannibalen und Pädophilen. Viel schlimmere Beleidigungen bleiben da im Repertoire der Schmähungen nicht übrig.
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Jair Bolsonaro hat seine politische Karriere auf Hass gebaut
Die beiden Männer hassen sich. Und sie verbreiten Hass. Und sticheln damit wiederum zu größerem Hass an. Die treibende Kraft dabei: Jair Bolsonaro und seine Anhänger. Die große Frage wird sein: Wohin mit all dem Hass, wenn der Präsident heute Abend verliert? Nach Umfragen misstrauen 75 Prozent seiner Anhänger dem Wahlsystem. Viele von ihnen wollen eine Niederlage nicht akzeptieren.
Jair Bolsonaro, 67, hat seine ganze politische Karriere auf Hass und Vorurteile gebaut: Hass gegen Linke. Hass gegen das Establishment. Hass gegen Kosmopoliten. Vorurteile gegenüber Schwarzen, Schwulen, Feministinnen, Atheisten, Liberalen. Er kritisiert nicht, sondern attackiert, denigriert, manipuliert. Durch Verbreitung von Lügen und Verschwörungstheorien vor allem in den sozialen Medien hat er es – ähnlich wie Trump – geschafft, die Hälfte des Volkes gegen die andere Hälfte aufzuwiegeln.
Sollte die Lage heute Abend oder in den kommenden Tagen in Brasilien eskalieren, trägt der Staatspräsident dafür die Verantwortung.
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Brasilien vor Stichwahl gespalten wie noch nie
Umso erstaunlicher mutet es an, dass sich Bolsonaro in diesen letzten Tagen in den TV-Wahlspots als umsorgender Vater der Nation präsentiert, mit lieblicher Stimme und viel Verständnis für die armen Bürger, dazu erklingt die Musik vom "capitão do povo", vom Hauptmann des Volkes. Immer dabei: seine stets lächelnde und ihn stets anhimmelnde junge Ehefrau Michelle.
Vielleicht ist die Inszenierung auch nicht so erstaunlich. Er braucht jetzt im zweiten Wahlgang die armen Wähler für den Sieg, vor allem die Frauen, die ihn bisher mehrheitlich ablehnen. Es reicht eben nicht, nur zu hassen.
Dass sich Brasilien ein hitziges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem einst so beliebten Arbeiterführer und Ex-Präsidenten Lula da Silva und dem rechtsextremen Bolsonaro liefert, verblüfft – einerseits. Diese Nation verfügt zwar – ähnlich wie die USA – über sehr konservative, sehr religiöse Wählerschichten, vor allem auf dem Land. Sie war aber ideologisch nie so gespalten wie etwa die USA.
Jetzt hat Bolsonaro auch das geschafft, was schon anderen Populisten und Rechtsextremisten in den vergangenen Jahren gelang: die Spaltung des Volkes, die Stärkung von Nationalismus und Fremdenhass, aufbauend auf einem religiösen Fanatismus und dem Leid eines von Pandemie und Rezession geplagten Volkes. Als Werkzeug dienen ihm sozialen Medien, in denen Lügen, Falschmeldungen und Drohungen, die in den USA noch übertreffen.
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Lula führt in Umfragen – Last-Minute-Sieg von Bolsonaro nicht ausgeschlossen
Wie geht es heute aus? Laut Umfragen geht Lula mit einem leichten Vorsprung von vier bis fünf Prozentpunkten in die Stichwahl, aber den Meinungsforschern ist nach den gravierenden Fehlern im ersten Wahlgang nur bedingt zu trauen. Bolsonaro hat in diesen Tagen noch mal viel Geld in Wahlwerbung auf Youtube gesteckt und seine finanziellen Versprechen an die Armen erhöht. Zudem haben ihm nahestehende Pastoren und Unternehmer ihre Anhänger und Angestellte unter Druck gesetzt, Bolsonaro zu wählen. Ein Last-Minute-Sieg ist keineswegs ausgeschlossen.
Bolsonaro hat in jedem Fall vorgesorgt. Sollte er verlieren, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit seinem Vorbild Donald Trump folgen und vom Wahlbetrug sprechen. Er hat Trumps Vorgehen beim Aufstand am 6. Januar 2021 genau studiert. Trump konnte sich nur deswegen an der Spitze der Republikaner halten, weil er die Niederlage gegen Biden bis heute nicht eingestanden hat. Das Image der Unbezwingbarkeit steht bei beiden im Zentrum – Trump und Bolsonaro.
Die Truppen jedenfalls halten sich in Stellung. Sowohl die Anhänger Bolsonaros, viele davon bewaffnet. Als auch Polizei und Militär, die eingreifen müssen, wenn es zu Ausschreitungen kommt oder Bolsonaro sich weigern sollte, den Präsidentenpalast zu verlassen. Die demokratischen Institutionen in Brasilien sind glücklicherweise stark, aber nicht so stark wie in den USA, wo sie sich Trump erfolgreich widersetzten.
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Man kann dem Land nur wünschen, dass das Ergebnis heute Abend nicht zu knapp ausfällt und es damit im Chaos versinkt. Und selbst dann kann sich keiner sicher sein, ob nicht die eine Hälfte auf die Straße gehen wird, wenn ihr Anführer "Betrug" schreit. Sollten 60 Millionen manipulierte Brasilianer Lula nicht als ihren rechtmäßigen Präsidenten sehen, stehen dem Land noch schwierigere Zeiten bevor als ohnehin schon.