Klassik: Daniel Barenboim wird 80 - Festprogramm gestrichen
Pianist und Dirigent, Humanist und Weltbürger, Israeli mit palästinensischem Pass. Daniel Barenboim vereint musikalisches Genie und Suche nach Aussöhnung.
Kaum eine Persönlichkeit hat die Welt der klassischen Musik in den vergangenen Jahrzehnten so aktiv geprägt wie Daniel Barenboim. Zudem ist der Pianist, Dirigent und Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden in seinem Bemühen um Aussöhnung auch gesellschaftspolitisch stets eine treibende Kraft. Seinen 80. Geburtstag (am 15. November) wollte Barenboim umfassend musikalisch zelebrieren: Als Dirigent der Neuinszenierung von Wagners "Ring des Nibelungen", als Pianist beim Konzert mit seiner Staatskapelle unter Leitung seines Freundes Zubin Mehta.
"Ich bin immer glücklich, wenn ich musizieren kann", sagt Barenboim jüngst noch bei einem seiner Gespräche mit der Deutschen Presse-Agentur. Doch das Festprogramm muss er streichen. Anfang Oktober kündigt Barenboim wegen einer schweren neurologischen Erkrankung einen vorläufigen Rückzug vom Musikbetrieb an. Inzwischen hofft er, bald so weit genesen zu sein, dass er seine Aufgaben wieder wahrnehmen kann - Zeitplan allerdings offen.
Seit frühester Kindheit dreht sich Barenboims Leben um Musik. Der Enkel jüdischer Einwanderer wird 1942 in Buenos Aires geboren. Sein Vater gibt dem Fünfjährigen Klavierunterricht. "Ich kannte praktisch keine Leute, die nicht Klavier spielten", erinnert er sich später, "in meiner kindlichen Auffassung spielte alle Welt Klavier". Beim ersten Konzert wird er gefeiert, Barenboim ist sieben Jahre alt. 1952 ziehen Ada und Enrique Barenboim mit ihrem Sohn nach Israel und damit näher an die europäischen Musikzentren.
Vorspielen in kurzen Hosen
Zwei Jahre später spielt er dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler vor - der junge Daniel trägt noch kurze Hosen. Die Einladung zu einem Auftritt bei den Berliner Philharmonikern darf er nicht annehmen. Neun Jahre nach Ende des Nationalsozialismus ist für Barenboims Vater die Zeit noch nicht reif für den Auftritt eines Juden in Deutschland.
Barenboims Leben wird international und künstlerisch vielfältig. Mit zehn Jahren debütiert er bei den Salzburger Festspielen, in Rom geht er mit zwölf als jüngster Schüler in die Dirigentenklasse an der Accademia di Santa Cecilia, in Paris nimmt er Kompositionsunterricht. Mit Artur Rubinstein raucht der 14-Jährige in Tel Aviv seine erste Zigarre - zur "Cohiba" greift er auch Jahrzehnte später noch zwischen zwei Wagner-Akten.
Ende der 60er steht Barenboim immer häufiger am Dirigentenpult internationaler Orchester. Er wird künstlerischer Direktor der Pariser Bastille-Oper, Musikdirektor am Teatro alla Scala di Milano, Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra. Er steht in Bayreuth und Salzburg am Pult, dirigiert die Berliner und Wiener Philharmoniker.
1992 zieht es Barenboim als Generalmusikdirektor an die Berliner Staatsoper. Während der Ruf an die Spitze der benachbarten Philharmoniker ausbleibt, wird die Staatskapelle unter Barenboim mit einem ganz eigenen Klang zu einem Orchester von Weltruf.
Weit über das übliche Maß
Die Staatsoper hat gerechnet: 760 Musiktheatervorstellungen, mehr als 850 Konzerte, darunter gut 450 Auftritte bei weltweiten Gastspielen mit der Staatskapelle. Zudem zahlreiche Einspielungen mit Orchestern und als Solist. Auch am Klavier geht sein Repertoire weit über das übliche Maß hinaus. Für Barenboim ist Musik ein Schlüssel zum Verständnis der Welt - davon will er unendlich viele haben.
Auch jenseits von Pult und Tastatur setzt Barenboim auf Vielfalt und Verbindendes. "Ich bin weder nur Jude, Argentinier oder in Deutschland lebender Musiker - ein moderner Mensch definiert sich vor allem durch die Möglichkeit, mehrere Identitäten zu haben." Offenheit, die anecken kann. In Israel löst der Humanist und Weltbürger einen Skandal aus, als er den Antisemiten Wagner spielt. Immer wieder äußert er sich zum Nahost-Konflikt. "Ich kämpfe gegen die Ignoranz - der Israelis und der Palästinenser."
Sein Engagement lässt sich auch an von Barenboim initiierten oder unterstützten Projekten ablesen. In Berlin werden mit seiner Hilfe eine Orchester-Akademie und das Opern-Studio für junge Künstlerinnen und Künstler angeschoben. Mit der "Staatsoper für alle" gibt es jährlich Klassik auf Weltniveau - umsonst und draußen. Es entsteht ein Musik-Kindergarten für Bildung durch Musik, keine Musikerziehung. Das West-Eastern Divan Orchestra setzt sich aus jungen Musikerinnen und Musikern aus Israel und arabischen Ländern zusammen. Die nach ihm und dem palästinensisch-amerikanischen Schriftsteller Edward Said (1935-2003) benannte Barenboim-Said-Akademie ist ein Stein gewordener Ort der Versöhnung.
Barenboim muss einen persönlichen Schicksalsschlag verkraften. Seine Frau, die britische Cellistin Jacqueline du Pré, stirbt 1987 nach langem Leiden an Multipler Sklerose. Später heiratet er die russische Pianistin Elena Bashkirowa, das Ehepaar hat zwei Söhne. Michael spielt Violine, David produziert Hip-Hop.
Herausgehobene Stellungen können mitunter zu Fehlern führen. Vor drei Jahren werden Vorwürfe laut, Barenboim missbrauche Machtstrukturen. Es folgen Widerspruch und Untersuchungen. Schließlich wird sein Vertrag als Generalmusikdirektor bis 2027 verlängert. Den Posten als Chef der Staatskapelle hat ihm das Orchester schon länger zugesichert - auf Lebenszeit.