Kernenergie | Elf Jahre nach der Fukushima-Katastropohe setzt Japan wieder auf Atomkraft
Schaut man genau hin, lässt sich vom Besucherzentrum in Onagawa aus das regionale Kernkraftwerk erkennen. Es steht auf einem Hügel, umgeben von dichtem Wald. Die Lage auf einer zerklüfteten Halbinsel im Nordosten Japans betrachteten die Erbauer vermutlich als Vorteil, als sie vor 40 Jahren die Atomkraft mit dem Versprechen auf Subventionen ins Umfeld der Stadt Onagawa brachten. So abgeschieden er auch liegen mag, Meiler wie dieser ziehen gerade viel Aufmerksamkeit auf sich. Japan ist dabei, mehr als ein Jahrzehnt nach der dreifachen Kernschmelze im Kernkraftwerk Fukushima I, wieder verstärkt auf Atomkraft zu setzen. Premier Fumio Kishida verkündet Pläne für den Bau von Reaktoren der nächsten Generation. Zudem sollen Aggregate wieder in Betrieb gehen, die nach der Fukushima-Havarie 2011 stillgelegt wurden. Man will die Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen beenden und erreichen, ab 2050 netto keine Emissionen mehr zu erzeugen. Kishidas „grüne Transformation“ sieht verlängerte Laufzeiten für Reaktoren über das geltende Maximum von 60 Jahren hinaus vor. Es gehe um eine bezahlbare Energieversorgung und die Erfahrung, dass in Tokio während der Hitzewelle dieses Sommers mit Stromausfällen gerechnet wurde.
Seit der Katastrophe in Fukushima waren die meisten Meiler abgeschaltet. Und die damalige Regierung versprach, keine neuen Reaktoren mehr bauen zu lassen. Sie musste das Veto einer erschütterten Öffentlichkeit fürchten. Nun aber soll bis 2030 der Anteil der Atomkraft am Energiehaushalt von 20 und 22 Prozent steigen – vor Fukushima waren es 30 und 2020 noch weniger als fünf Prozent. Nur zehn Reaktoren von 30 blieben wegen der strengeren Sicherheitsstandards nach dem Atomunglück in Betrieb. Wenn sich Kishida durchsetzt, gehen 2023 sieben Reaktoren wieder ans Netz, darunter die Anlage 2 des Kraftwerks in Onagawa, das durch das Erdbeben und den Tsunami von 2011 beschädigt wurde. Die Atomüberwachungsbehörde hat bereits zugestimmt, zur Freude von Yoshihiro Murai, dem Gouverneur der Präfektur Miyagi, in der Onagawa liegt.
Keine sicheren Fluchtwege
Viele Bewohner der Stadt glauben, dass die Notfallpläne nicht ausreichen, um Leben zu retten. „Die vorgesehenen Evakuierungen werden nicht funktionieren. Sie sind mehr Bedrohung als Hilfe“, meint Masami Hino, der innerhalb einer 30-Kilometer-Zone rings um das Kraftwerk lebt und vor Gericht Widerspruch gegen die Wiederinbetriebnahme eingelegt hat. Käme es zu einem Unfall, sollen nach dem offiziellen Plan tausend Einwohner, die bis zu fünf Kilometer vom Kraftwerk entfernt wohnen, sofort ihre Wohnungen verlassen, während 190.000 Menschen in einem Radius von 30 Kilometern nach und nach evakuiert würden. „Es wird enorme Verkehrsstaus geben, sodass kaum jemand in der Lage ist, sich zügig in Sicherheit zu bringen“, glaubt Hino, der sich auf eine Expertensimulation beruft, nach der es bis zu fünf Tage dauern könnte, um alle Gefährdeten zu evakuieren.
„Es ist lächerlich, anzunehmen, dass die Leute auf geordnete Weise aufbrechen. Sie werden einfach so schnell wie möglich losfahren und dann tagelang ohne Essen, Wasser und Zugang zu Toiletten feststecken.“ In der Tat wären die engen, kurvenreichen Straßen in der Region vermutlich schnell verstopft und die Flüchtenden der Gefahr radioaktiver Verstrahlung ausgesetzt. Nicht zuletzt Kraftwerksbetreiber Tohoku Electric Power geht davon aus und will fast tausend Mitarbeiter bereitstellen, die Menschen auf Strahlung untersuchen, bevor sie in Übergangsunterkünfte dürfen.
„Wie können Tohoku Electric und die Präfektur garantieren, dass nach einem schweren Erdbeben die Evakuierung glatt verläuft? Das ist unmöglich“, sagt Mikiko Abe, der als unabhängiges Mitglied im Stadtrat von Onagawa sitzt und sich seit Jahrzehnten für die Abschaltung des Kernkraftwerks einsetzt. „Statt Evakuierungspläne machen zu müssen, sollten wir sicher an einem Ort leben, an dem es unnötig ist, darüber nachzudenken, wie man unverzüglich aus Häusern und Wohnungen flieht.“ Premier Kishida hat im Zeichen von Energieunsicherheit und Klimakrise die Unterstützung von Fatih Birol, dem Chef der Internationalen Energieagentur (IEA). Der vertritt die Auffassung, mehr Kernkraftwerke in Japan, einem der größten Verbraucher von Flüssiggas (LNG), das würde dazu führen, weniger davon zu brauchen und Europas Energieversorgung im Winter zu erleichtern.
Unterdessen scheint der Widerstand gegen eine stärkere Rolle der Kernkraft im Energiemix schwächer zu werden. Eine Erhebung der Wirtschaftszeitung Nikkei vor Wochen ergab, dass 53 Prozent der Befragten mit dem Wiedereinschalten der Reaktoren einverstanden sind, vorausgesetzt, deren Sicherheit könne gewährleistet werden. Erstmals seit der Fukushima-Katastrophe übersteigt die Zahl der Befürworter die der Gegner.
Justin McCurry ist Tokio-Korrespondent des Guardian
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