Verkehrswende | 40 Jahre Verspätung? Warum der Deutschlandtakt bei der Bahn nicht vorankommt
Letzte Woche hallte es wie ein Paukenschlag durch die Medien: Der Deutschlandtakt, dessen Umsetzung zumindest als erste Stufe eigentlich für 2030 angekündigt war, verschiebt sich nach Angaben des Staatssekretärs und Bahnbeauftragten der Bundesregierung, Michael Theurer (FDP), auf 2070. 40 Jahre Verspätung für das Projekt, das eigentlich ab 2030 das Bahnfahren in Deutschland auf ein neues Niveau heben und damit das wichtigste Instrument zur Verkehrsverlagerung auf die Schiene werden sollte. Gleichzeitig kündigt das Verkehrsministerium an, dass die Transporte auf der Straße noch stärker wachsen würden, weshalb in großem Umfang neue Autobahnen gebaut werden müssten. Und das alles im Jahr 2023, wo – zumindest außerhalb der FDP – alle Welt über die Klimakrise und die dringend notwendigen Maßnahmen dagegen spricht und eigentlich unstrittig ist, dass der Verkehrssektor hier dringend liefern muss.
Aber was genau ist eigentlich geplant und wo hakt es bei der Umsetzung? Der Deutschlandtakt soll ein sogenannter Integraler Taktfahrplan für ganz Deutschland werden. Das bedeutet, dass sich die Züge aus verschiedenen Richtungen an den Knotenbahnhöfen immer zu bestimmten Zeiten – in der Regel die volle oder halbe Stunde (oder beides) – treffen. Dadurch wird es möglich, ohne Wartezeiten zwischen den Zügen umzusteigen – und das ganze Bahnsystem wird auf intelligente Weise beschleunigt. Solche integralen Taktfahrpläne gibt es teilweise schon in Regionalnetzen. Neu am Deutschlandtakt wäre aber, dass er das Land als Ganzes umfasst – von den großen Fernverkehrsachsen aus bis zum Regionalverkehr, und idealerweise sollte sich auch der sonstige öffentliche Nahverkehr mit Bussen, U- und Straßenbahnen einfügen. Dadurch könnte tatsächlich der gesamte öffentliche Verkehr in Deutschland wesentlich attraktiver und komfortabler werden, indem man überall direkt von einem Verkehrsmittel in ein anderes umsteigen kann. Einen ausgearbeiteten Fahrplan gibt es bereits, den sogenannten „Zielfahrplan Deutschlandtakt“.
Ein solcher Taktverkehr ist aber nicht einfach nur durch einen neuen Fahrplan umsetzbar, sondern dafür sind auch bauliche Maßnahmen am Schienennetz notwendig: Die Fahrzeiten zwischen den Knotenbahnhöfen müssen so passen, dass sich die Züge auch wirklich zu den richtigen Zeiten dort treffen können, und es muss möglich sein, dass die Züge gleichzeitig oder in geringem zeitlichem Abstand in die Bahnhöfe und wieder hinausfahren. Zudem soll der Verkehr auf der Schiene mit dem Deutschlandtakt insgesamt verdichtet werden, wozu die heutigen Kapazitäten an vielen Stellen nicht ausreichen. Es ist also eine ganze Reihe von Ausbaumaßnahmen am Netz notwendig. Auch für diese baulichen Maßnahmen gibt es bereits einen ausgearbeiteten Plan, der als Teil des Bundesschienenwegeausbaugesetzes sogar gesetzlich festgelegt ist.
Die Schweiz zeigt: Wer wirklich Prioritäten setzt, kann es schaffen
Auf den ersten Blick geht es beim Deutschlandtakt nur um den Personenverkehr, aber wo bleibt der Güterverkehr, der ja ebenfalls in großem Maßstab von der Straße auf die Schiene verlagert werden muss, um die Klimaziele zu erreichen? Tatsächlich würde auch er profitieren, da zwischen der wachsenden Zahl an Personenzüge auch durchgeplante Zugläufe für Güterzüge vorgesehen sind. Anders als heute, wo die Güterzüge regelmäßig zur Seite gestellt werden, um die schnelleren Personenzüge passieren zu lassen, könnten die Güterzüge mit einem vorgesehenen Fahrplan und dadurch mit weniger Stopps und dadurch geringerem Energieverbrauch fahren – vorausgesetzt, dass der notwendige Ausbau des Schienennetzes auch stattfindet, damit die Kapazitäten dafür vorhanden sind. Sonst bremsen sich Personen- und Güterverkehr weiter gegenseitig aus.
Für die Umsetzung des Konzepts müssen viele Räder ineinandergreifen; es muss an unterschiedlichen Stellen aufeinander abgestimmt investiert werden. Die Umsetzbarkeit wurde in der Vergangenheit immer wieder angezweifelt. Aber: Es gibt ein Vorbild gleich in der Nachbarschaft, das einen solchen integralen Taktfahrplan bereits erfolgreich umgesetzt hat: die Schweiz. Die Eidgenossen haben bereits in den 1980er-Jahren – per Volksabstimmung – das Konzept „Bahn 2000“ beschlossen und mit für deutsche Verhältnisse lächerlich anmutender Verspätung von 4 Jahren umgesetzt. Insgesamt 5,9 Milliarden Franken wurden in 130 Ausbauprojekte investiert, damit 2004 die erste Stufe des Schweiz-weiten Taktfahrplans mit einem Halbstundentakt im Fernverkehr, aber auch erweiterten Kapazitäten für den Schienengüterverkehr, starten konnte. Seitdem sind noch weitere Neubaumaßnahmen hinzugekommen, die spektakulärste davon wohl der Gotthard-Basistunnel.
Foto: Fabrice Coffrini / AFP / Getty Images
Warum ist in der Schweiz gelungen, was in Deutschland vor Beginn der eigentlichen Umsetzung zerredet und auf die lange Bank geschoben wird? Der entscheidende Unterschied ist, dass die Schweizer Verkehrspolitik mit der Entscheidung für „Bahn 2000“ wirklich Prioritäten gesetzt hat: Schiene vor Straße. Anders als in der deutschen Verkehrspolitik hat man nicht länger versucht, alle Verkehrsträger gleichzeitig zu fördern und niemandem weh zu tun. Stattdessen haben die Schweizer sich klare Verlagerungsziele gesetzt und diese mit sinnvollen politischen Maßnahmen umgesetzt – z.B. der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe, die den Lkw-Verkehr teurer macht und das eingenommene Geld zum Ausbau des Schienennetzes einsetzt. Auch in der Schweiz wurden nicht alle Verlagerungsziele voll erreicht, aber doch im Großen und Ganzen – ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo sämtliche Ziele im Verkehrssektor fast durchgehend verfehlt werden, weil die politischen Maßnahmen nicht dazu passen.
Der aktuelle Ausbau bei der Deutschen Bahn passt nicht zum Ziel
Der zweite große Unterschied ist der klare Fokus der Schweizer Ausbaustrategie auf die Kapazitäten. „Bahn 2000“ beinhaltete nur eine echte Neubaustrecke – mit 200 km/h Höchstgeschwindigkeit. Alle anderen Baumaßnahmen dienten dazu, die Kapazitäten durch zusätzliche Gleise und Weichenverbindungen zu erhöhen oder die Geschwindigkeit durch den entsprechenden Ausbau von Strecken punktuell zu erhöhen. Die Schweizer Planer haben sich „Elektronik vor Beton“ als Motto gesetzt – und nur dort Baumaßnahmen ergriffen, wo man die gewünschten Effekte nicht durch technische Verbesserungen erreichen konnte.
In Deutschland hingegen werden im Zuge des Deutschlandtakts wieder neue milliardenteure Neubaustrecken (z.B. zwischen Bielefeld und Hannover) geplant, die mit 300 km/h und dadurch einem hohen Energieaufwand befahren werden sollen und Jahrzehnte in der Umsetzung brauchen werden. Und wenn sie eines Tages fertig wären, hätten sie extrem knappe Anschlüsse in den Knoten zur Folge, die schon bei geringen Verspätungen verfehlt würden. Damit würden sie dem Deutschlandtakt eher schaden als nützen, während mit etwas weniger ambitionierten Fahrzeiten ein stabilerer, aber ebenfalls sinnvoll verknüpfter Fahrplan möglich wäre.
Der Fokus müsste – gerade in Anbetracht der tatsächlichen Qualität im deutschen Bahnnetz, aber auch der verfügbaren Investitionsmittel – auf robusten Anschlüssen liegen, damit kleine Verspätungen wieder aufgefangen werden können. Statt kompletter Neubaustrecken – die immer auch mit einem hohen Naturverbrauch und Klimaschädigung im Bau verbunden sind – wäre an vielen Stellen der gezielte Ausbau der Bestandsstrecken mit punktuellen Neubau-Anteilen wesentlich sinnvoller und zudem weitaus schneller umsetzbar. Die meisten der für den Deutschlandtakt notwendigen Projekte sind ohnehin relativ überschaubare Maßnahmen, die ohne Probleme bis 2030 umgesetzt werden könnten – den entsprechenden politischen Willen und eine klare Prioritätensetzung vorausgesetzt.
Einheitlicher Fahrtakt und einheitliche Tarifsysteme
Auch diese Projekte sind jedoch bei Weitem nicht durchfinanziert, und mit jedem Haushaltsjahr verschiebt sich ihre Umsetzung weiter in die Zukunft. Das deutsche Schienennetz entfernt sich durch die jahrelange Unterfinanzierung immer weiter von dem Zustand, den es für den auch so schon wachsenden Schienenverkehr bräuchte. In der Schweiz ist hingegen über langfristige Infrastruktur-Fonds immer sichergestellt, dass geplante Bauprojekte im Zeit- und meistens auch Kostenplan umgesetzt werden können.
Die Schweizer Schienenprojekte wurden überdies alle dem Ziel des integralen Taktfahrplans untergeordnet – während in Deutschland noch jetzt Projekte umgesetzt werden, die diesen konterkarieren. Am augenfälligsten ist das bei Stuttgart 21, wo ein Kopfbahnhof mit 17 Gleisen, der mit überschaubaren Ausbaumaßnahmen gut als Knotenpunkt für einen Deutschlandtakt geeignet wäre, durch einen wesentlich kleineren Durchgangsbahnhof mit nur 8 Gleisen ersetzt werden soll, der als Knoten ungeeignet ist. In Hamburg wird mit der Verlegung des Bahnhofs Altona ein ähnliches Projekt gerade erst begonnen. Die Schweizer haben hingegen überall den Ausbau der Kapazitäten in den Mittelpunkt gestellt. Auch der Hauptbahnhof Zürich als zentraler Umsteigeknoten wurde mit einer neuen Strecke aufwändig untertunnelt – aber nicht als Ersatz des bestehenden Bahnhofs, sondern um diesen so zu erweitern, dass alle Fern- und Nahverkehrszüge zu den Knotenzeiten dort Platz finden und in der notwendigen Zeit den nächsten Knoten erreichen können.
Ein weiterer Unterschied ist, dass das Schweizer System nicht nur beim Fahrplan integriert gedacht ist, sondern auch bei den Tarifen. Mit einem Ticket kann man (fast) alle öffentlichen Verkehrsmittel der Schweiz benutzen, während das deutsche System leider immer noch vielfach zersplittert ist. Wenn z.B. ein „Flixtrain“ ausfällt, können Fahrgäste nicht einfach so auf den nächsten Zug der Deutschen Bahn ausweichen – und umgekehrt. Auch in der Schweiz fahren zwar unterschiedliche Unternehmen, teils in kantonalem Besitz. Sie sind aber alle in ein gemeinsames Fahrplan- und Tarifsystem eingebunden, und erst dadurch ist das Schweizer System so unkompliziert und Nutzer:innen-freundlich.
Die Regierung blockiert die Umsetzung
Das Schweizer System ist im Übrigen inzwischen fast zum Opfer des eigenen Erfolgs geworden. Pro Kopf fahren die Schweizer mit 2.505 Kilometern fast doppelt so viel Bahn wie die Deutschen (1.205 km pro Kopf, beides Stand 2019) – in einem fast neunmal kleineren Land. Nun erweitern die Schweizer ihr Netz mit dem „Strategischen Entwicklungsprogramm Bahninfrastruktur“ nochmals und planen auf den zentralen Verbindungen einen Viertelstundentakt, um das weitere Wachstum bewältigen zu können, ohne den Güterverkehr auszubremsen.
In Deutschland traut das Verkehrsministerium unter Volker Wissing der Bahn hingegen nur wenig zu und setzt stattdessen noch immer auf den Ausbau der Autobahnen. Dabei ist die entscheidende Lehre aus der Schweiz: Man muss mit einem konsequenten und durchdachten Ausbau vorangehen, dann nutzen die Menschen die Bahn auch begeistert. Mit dem Deutschlandtakt liegt ein solches durchdachtes Konzept seit zwei Jahren endlich vor, und die Menschen wollen auch hierzulande Bahn fahren – und nun blockiert die Regierung die Realisierung.
Stattdessen sollte eigentlich schon überall im ganzen Land die Umsetzung beginnen – mit sinnvollen Zwischenetappen, die auch vor der kompletten Fertigstellung schon schrittweise Verbesserungen ermöglichen. Und gleichzeitig sollten wir gemeinsam mit unseren Nachbarländern daran tüfteln, wie dieser Takt als grenzüberschreitend gedachter Europatakt zukünftig auch internationale Langstreckenverbindungen attraktiver machen und dazu beitragen könnte, auch diesen Verkehr in großem Maßstab aus der Luft auf die Schiene zu verlagern.
Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.