ARD-Serie siegt in Cannes: Deutsch-jüdisch, postmigrantisch und wundervoll abgefuckt: "Die Zweiflers" als beste Serie ausgezeichnet
Die ARD-Serie "Die Zweiflers" ist eine Sensation: international besetzt, tiefgründig, modern erzählt – und in jeder Minute unerwartbar. Zu Recht wurde das sechsteilige Meisterwerk von David Hadda in Cannes zur besten Serie des Jahres gekürt. Der stern war mit dabei an der französischen Riviera.
Sonntagnacht, nach umjubelter Premiere, stehen alle zusammen in einer Seitengasse unweit des Palais des Festivals, feiern sich ausgelassen in kleiner Runde. Allerlei internationale Stars und Influencer dinieren derweilen im Grand Hotel Majestic Barriere, drüben über dem Casino von Cannes ist eine heiße Aftershow-Party angekündigt, überall wären sie eingeladen, sind aber nicht dort. Das angereiste Team begießt diesen Abend für sich, genießt Stunden später die Standing Ovations des wohl anspruchsvollsten TV-Publikums der Welt. Bei den "Cannesseries", jenem jüngeren, immer bedeutender werdenden Schwesterchen des Filmfestivals, welches einen Monat später am selben Ort starten wird.
"Angeblich war das der mit Abstand längste Applaus von allen", flüstert Sunnyi Melles am nächtlichen Stehtisch aufgeregt und hoffnunsgreich ihren Kollegen zu. Ob das möglicherweise ein gutes Omen für die Preisverleihung sein könnte? Die Schauspieldiva aus München ist – das soll nicht uncharmant klingen – ein alter Hase in Cannes. Vor zwei Jahren gewann "Triangle of Sadness" mit ihr in der markantesten Rolle den Filmwettbewerb, weshalb sie inzwischen sogar von Brad Pitt auf offener Straße angequatscht wird. Nun ist sie mit diesem sehr ungewöhnlichen Projekt zurückgekehrt. Dass sich Schauspieler, Drehbuchautorinnen, Produzenten, Filmmusiker wie eine glückselige Pfadfindergruppe am Abschlussabend zum geselligen Umtrunk treffen, statt sich im nächtlichen Blitzlichtgewitter der Croisette zu sonnen, ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich – sowie bezeichnend. Die Besetzung von "Die Zweiflers", jener erstaunlichen Serie über einen disfunktionalen jüdischen Frankfurter Familienclan, die ab 3. Mai in der ARD Mediathek zu sehen sein wird, könnte heterogener und bunter kaum sein.
Da wären etwa die Berliner Gebrüder Aaron und Leo Altaras, beide atemberaubende Styler, die jeden Influencer mit ihrem heißen Augenaufschlag hinter sich lassen könnten, wären sie nicht viel lieber jene Schauspielstars, als die sie sich hier erweisen– logo, zudem Sänger und DJs. Oder die ungarisch-luxemburgisch-schweizerisch-münchnerische Sunnyi Melles, schrille, atemberaubende Grande Dame der Schauspielkünste, die diese Festspiele zu ihrer Bühne gemacht hat. Sie spielt die Unsicherheiten ihrer Rolle vielleicht auch deshalb so überzeugend, weil sie einst selbst als junges Flüchtlings-Mädchen jahrelang staatenlos aufwuchs. Der israelisch-amerikanische Schauspieler Mike Burstyn, der einem Clan jüdischer Schauspieler und Comedians entstammt und seine Rolle wie Filmpartnerin Eleanor Reissa in authentischem Jiddisch umsetzt. So wie die aus in London-Greenwich stammende Hauptdarstellerin mit jamaikanischem Background Saffron Coomber konsequent nur Englisch spricht.
Die "biodeutschen" Charaktere bleiben – abgesehen von Martin Wuttke als "Juden-Siggi", einem finsteren Bahnhofsviertelganoven, Zaungäste. Hin und wieder platzen sie mit patziger Unsicherheit und ihrem zurzeit wieder omnipräsenten Alltagsantisemitismus ins Geschehen, etwa wenn ein Kunstkurator erklärt, warum die Massenvernichtung der Juden im Nationasozialismus durchaus mit dem Kücken-Schreddern der Lebensmittelindustrie vergleichbar sei. Doch hier bleibt dieses gestrige Deutschland weithin Parallelgesellschaft, das die postmigrantische Realität bloß stört.
Das wirkt erst einmal ungemein mutig, was sich die ARD mit Creator und Showrunner David Hadda da traut: allein die vielen Sprachen, Kulturen, Realitäten und Lebenskonzepte, die da parallel zusammenfließen, aber auch launig bis melodramatisch kollidieren. Und doch passiert in dieser Produktion in keiner Minute jene unangenehme Sache, die deutsches Fernsehen und Kino seit längerem so einzuengen droht: bürokratisch verordnete Diversität. Vermutlich war noch keine Produktion so vielfältig wie diese. Doch weil es aus Selbstverständlichkeit geschieht, nun einmal ein international geprägtes realistisches Frankfurt am Main abgebildet wird, riecht es nie nach jenem links-preußischen Reglement aus dem Kulturstaatsministerium, das zurzeit um sich greift. Das wirkt ungemein befreiend. Und glaubwürdig, sonst wären "Die Zweiflers" nicht auch noch parallel mit der Auszeichnung der jungen Zuseherschaft "Prix des Lycéens" prämiert worden. Spätnachts läuft einem auch noch eine glückliche Mitarbeiterin des internationalen Vermarkters über den Weg, die sich über das enorme Interesse weltweit freut.
David Hadda zeichnet seit längerem für Projekte und Programme im deutschen Fernsehen verantwortlich, die jüdisch geprägt sind. Aber nicht anders, als Vergleichbares in New York, London oder vielleicht sogar Tel Aviv. Mit Daniel Donskoy als Gastgeber produzierte er den preisgekrönten Talk "Freitagnacht Jews", mit Comedian Oliver Polak inszenierte er den "Gedankenpalast" in einem realen nächtlichen Wald. Jedes seiner Projekte, ganz besonders aber "Die Zweiflers", sind befreit von jüdischen Charakteren, die in irgendeiner Weise moralischer, redlicher oder klüger sein müssen. Menschen eben, nicht mehr und nicht weniger. Das macht diese Serie unterschiedlichster Charaktere, die alle auf ihre Weise schlittern, aber versuchen, sich zumindest manchmal dabei hilfreich bei den Händen zu fassen, so nah, so real.
All dies sollte sich Mittwochabend schließlich lohnen. "Die Zweiflers" wurden auf dem französischen TV-Festival mit zwei der wichtigsten Preise ausgezeichnet, darunter für die beste Serie und die beste Musik. Anfang des Monats hatte das Hollywood-Branchenmagazin "Variety" das Projekt bereits als "Hot Pick" ausgewählt, und mit der Erfolgsproduktion "Succession" verglichen.
Bevor das in Cannes versammelte Team vom gemeinsamen Treffpunkt zum "Pink Carpet" zu Fuß aufgebrochen war, hatte Mike Burstyn, der im Film den nur partiell honorigen Patriarchen Symcha Zweifler gibt, das Wort ergriffen. "Während der Dreharbeiten haben uns die erschütternden Nachrichten des 7. Oktobers 2023 ereilt", sagt er, zeigt dabei seine Halskette mit der Aufschrift "Bring them home", die er während des geamten Wochenendes trägt, und die die Geiseln der Hamas mahnt. "Diese Serie erzählt von Kontinuität, von dem, was wir bewahren und weitergeben müssen", so Burstyn. "Und das ist nicht Tradition, sondern Bewusstsein."
Es ist auch eine der beindruckendsten und entscheidenden Szenen in "Die Zweiflers", als – Achtung hier kommt ein Spoiler – jene junge schwarze Frau, die von Zweifler Junior ein Kind erwartet, eine folgenschwere Erkenntnis ereilt. Gerade als sie von der religiösen Vereinnahmung ihres ungeborenen Jungen durch die jüdische Familie flieht, wird dieser bereits von einem Taxifahrer, pränatal, antisemitisch beleidigt. Sie entscheidet in diesem unglaublich starken Moment frei und selbsbestimmt, kein Kind auf die Welt bringen zu wollen, das für etwas diskriminiert werden wird, was es nicht ist. In einer Zeit des Identitären, das gerade von allen möglichen politischen Seiten droht, wird hier die Idee der Möglichkeit vielfältiger Identitäten gefeiert. Ein Wille zur Parallelität, als Gegensatz zur Beliebigkeit. Stärker und intensiver war deutsches Fernsehen lange nicht.