Keine Einigung in Sicht: Streit um Wahlrechtsreform in NRW - FDP will klagen
CDU und Grüne sorgen mit ihrer Änderung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Kommunalwahlen für Ärger. Kleine Parteien sehen sich systematisch benachteiligt. Die FDP lässt sich das nicht bieten.
Gut ein Jahr vor den nächsten Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen ist ein heftiger Streit um das von CDU und Grünen geänderte Kommunalwahlrecht entbrannt. Die NRW-FDP kündigte eine Klage vor dem Verfassungsgericht in Münster an. Kleine Parteien - allen voran die FDP - fühlen sich durch das Anfang Juli mit den Stimmen von CDU, Grünen und SPD im Landtag beschlossene Verfahren für die Verteilung der Sitze in Städte- und Gemeinderäten systematisch benachteiligt.
"Wir Freie Demokraten werden uns weiterhin für ein faires Kommunalwahlrecht engagieren und alle notwendigen Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass jede Wählerstimme gerecht gewertet wird", erklärte FDP-Landes- und Fraktionschef Henning Höne. Die FDP habe ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben. Der FDP-Landesvorstand habe zudem ein Klageverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof NRW beschlossen und den Rechtswissenschaftler Martin Morlok mit der Vertretung beauftragt.
Ziel des geänderten Sitzzuteilungsverfahrens ist nach Angaben der Grünen, künftig weit überproportionale Zugewinne für Kleinst- und Splitterparteien zu vermeiden, wie sie im derzeit gängigen Verfahren immer wieder vorkämen.
Sperrklausel durch die Hintertür?
Nach Ansicht der FDP, aber auch der Linken und des Verbandes "Mehr Demokratie e.V. NRW" wird es aber für kleinere Parteien und Wählergemeinschaften künftig schwieriger, auf kommunaler Ebene ein Mandat zu erhalten oder eine Fraktion zu bilden.
Die Anzahl der unwirksamen Wählerstimmen werde deutlich erhöht, hatte Höne kritisiert. "Tausende Wählerstimmen würden durch dieses Modell wirkungslos." Kleinparteien, Wählergemeinschaften sowie auch etablierte Parteien würden "systematisch benachteiligt", und der Wählerwille werde verzerrt. "Im Kern handele es sich um die Einführung einer Sperrklausel durch die Hintertür", hatte Höne gesagt.
Zur Erinnerung: Das NRW-Verfassungsgericht hatte 2017 die in der Landesverfassung verankerte 2,5-Prozent-Sperrklausel bei der Wahl von Gemeinderäten und Kreistagen für verfassungswidrig erklärt und damit mehreren klagenden kleinen Parteien Recht gegeben. Die Klausel verstoße gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit, hatte es damals geheißen.
Jede Wählerstimme zählt
Um diesen Grundsatz, wonach jede Wählerstimme den gleichen Erfolgswert haben muss, geht es auch im aktuellen Streit. Im Fokus steht das bisher angewendete Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers. Nach Ansicht von CDU und Grünen kommt es durch dieses Verfahren zu starken Verzerrungen bei der Sitzzuteilung zugunsten von sehr kleinen Parteien, die aufgrund ihres Wahlergebnisses einen sogenannten Idealanspruch von weit weniger als einem Sitz hätten. Bisher wurden diese Ergebnisse zu einem ganzen Sitz aufgerundet. Das wird künftig nicht mehr möglich sein. Dann bekommen Parteien zunächst ihren abgerundeten Anspruch zugeteilt, und die noch zu vergebenen Restsitze werden durch einen prozentualen Restausgleich verteilt.
Die FDP hatte berechnet, dass die CDU mit dem neuen Berechnungsverfahren bei der vergangenen Kommunalwahl 2020 insgesamt 184 Sitze mehr gewonnen hätte, die SPD 84 und die Grünen 51. Dagegen hätten die FDP 95 Sitze, die Linke 64, die AfD 29 und Kleinparteien sowie Wählervereinigungen 131 Sitze verloren. Zudem hätten mit der neuen Berechnung mehr als 100 Gruppierungen ihren Fraktionsstatus verloren. Dutzende Einzelmandatsträger wären gar nicht mehr in Gremien eingezogen.
Gutachten sieht Bevorzugung größerer Parteien
Angeheizt wurde der Streit durch ein kritisches internes mathematisches Gutachten, das CDU und Grüne in Auftrag gegeben hatten und das erst kürzlich veröffentlicht wurde. Darin kommt der emeritierte Augsburger Mathematikprofessor Friedrich Pukelsheim zu dem Schluss, dass das unter Federführung der Grünen ausgearbeitete neue Verfahren die stärkeren Parteien auf Kosten der schwächeren Parteien bevorzuge und "in einem problematischen Verhältnis zu den Wahlgrundsätzen" stehe. Die FDP hatte den Regierungsfraktionen vorgeworfen, die Stellungnahme unter Verschluss gehalten zu haben.
Ein weiteres jetzt veröffentlichtes Rechtsgutachten des Kölner Rechtswissenschaftlers Markus Ogorek im Auftrag von CDU und Grünen zieht dagegen das Fazit, dass keines der diversen mathematischen Sitzzuteilungsverfahren dem Ideal, wonach jede Wählerstimme den gleichen Erfolgswert haben muss, absolut gerecht werden könne. Der dem Gesetzgeber eingeräumte Gestaltungsspielraum sei in diesem Fall durch das neue Verfahren in NRW aber gewahrt, die Ausgestaltung sei mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit vereinbar. Dennoch räumt auch Ogorek ein, dass das jetzt beschlossene Verfahren eher für größere Parteien günstiger sei, während die bisherige Methode nach Sainte-Laguë/Schepers dem Erfolgswert der für kleine Parteien abgegebenen Stimmen besser gerecht werde.
FDP-Landeschef Höne warf den Regierungsfraktionen vor, "zum eigenen Vorteil bis an die verfassungsrechtliche Klippe zu gehen". Er betonte: "CDU und Grüne untergraben damit die kommunale Demokratie."
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Landtagsfraktion, Mehrdad Mostofizadeh, sagte auf dpa-Anfrage: "Wir wollen mit diesem neuen Modell die Gleichwertigkeit der Stimmen verbessern und haben dazu vorab zwei Gutachten in Auftrag gegeben, um uns bestmöglich abzusichern." Auch in einer früheren Anhörung im Landtag hatten Sachverständige nach Angaben der Grünen nicht davon gesprochen, dass das neue Modell gegen die Verfassung verstoße.