Reifen-Experte: Warum Billigreifen für Ihr Auto schnell zur Gefahr werden können
Wer seine Reifen im Internet kauft, mag sich wundern: Zwischen den verschiedenen Herstellern liegen die Kosten pro Satz oft Hunderte Euro auseinander. Theoretisch ein riesiges Sparpotential also?
Das beste Auto ist mit schlechten Reifen sehr schnell am Limit. Und ein abgefahrenes Profil verlängert den Bremsweg bei Nässe um viele, sehr viele Meter. Beide Situationen möchte niemand im öffentlichen Straßenverkehr erleben. Auf den Teststrecken des Contidroms nahe Hannover ist genau das Alltag: Hier testen die Ingenieure des Reifenherstellers das ganze Jahr, wie sich Reifen in bestimmten Situationen verhalten und gewinnen mit Hilfe der Ergebnisse wichtige Daten für die Entwicklung neuer Modelle. Im Gespräch mit dem stern erklärt Conti-Prüfingenieur Philipp Must, warum ein guter Reifen besser als jede Versicherung ist – und warum der Griff zur niedrigsten Preiskategorie oft keine gute Idee ist.
Herr Must, besonders beim Einkauf im Internet werden mir bei einer Suche die billigsten Reifen zuerst angezeigt. Kann ich in Deutschland bei jedem Modell bedenkenlos zugreifen?
Es ist natürlich verlockend, bei einem Reifensatz Hunderte Euro sparen zu können. Ich kann nur sagen: Ein eklatanter Preisunterschied äußert sich in der Reifenwelt auch in einer eklatanten Leistungsdifferenz. Ein billiger Reifen wird in Extremsituationen nie so sicher und gut sein, wie ein teures Modell. Das liegt an vielen Faktoren. Bei Premiumprodukten ist das Material hochwertiger, die Verarbeitung besser und das Know-How größer. Wir testen unsere Reifen bis ins kleinste Detail, bevor sie auf den Markt kommen. Das ist unglaublich teuer und ein Investment, welches Hersteller sogenannter Billigreifen meiden.
Aber alle Reifen durchlaufen doch eine Freigabeprozess, oder? Ich verstehe das so, dass auch die billigsten Reifen von irgendeiner Prüfstelle für ausreichend erklärt worden sind.
Die Reifen, die hier angeboten werden, erfüllen augenscheinlich die Mindestanforderungen für den europäischen Markt, ja.
Reichen diese Reifen dann nicht zumindest für – sagen wir – Wenigfahrer?
Nein, das sehe ich ganz anders. Selbst bei einer Fahrt, die nur 5 Minuten dauert, muss ich mich darauf verlassen können, dass mein Reifen mit jedem Wetter und jeder Situation so gut wie möglich umgeht. Auch bei einer Fahrt von Dorf zu Dorf kann ein Hund auf die Straße springen – dann wäre es besser, wenn die Vollbremsung auch tatsächlich zu einem schnellen Stillstand führt. Wie gesagt: Der richtige Reifen entscheidet manchmal zwischen einem Schaden und einem folgenlosen Schreckmoment.
Nehmen wir an, ich brauche neue Reifen – bin aber faul. Reichen Allwetterprodukte?
Ein Allwetterreifen ist ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Randbedingungen. Er wird im Sommer immer schlechter als ein guter Sommerreifen und im Winter immer schlechter als ein guter Winterreifen sein. Besonders in Gegenden, in denen beide Jahreszeiten sehr ausgeprägt sind, sind Sommerreifen und Winterreifen die geeignetste Wahl. Er ist aber eine geeignete Alternative für Regionen mit ganzjährig gemäßigten Wetterbedingungen und nur gelegentlichem Schneefall.
Muss ich bei dem Kauf von Reifen für Elektroautos auf besondere Eigenschaften achten?
Es gibt verschiedene Kennzeichnungen für Elektroauto-Reifen. Meist ist das ein Stempel mit der Bezeichnung „EV“. Das sind keine vollkommen anderen Modelle. So unterschiedlich sind die verschiedenen Antriebsarten eigentlich nicht – zumindest aus Sicht eines Reifenherstellers. Wir entwickeln etwa keine eigenen Reifen für Elektrofahrzeuge. Denn prinzipiell profitieren alle Fahrzeuge von technologischen Entwicklungen.
Im Urwald der Reifenmodelle tauchen immer wieder neue Modelle auf – oft mit einer Versionsnummer. Eine Art Fortsetzung also. Sollte man immer darauf achten, das neueste Modell zu kaufen?
Grundsätzlich kann man natürlich auch ein älteres Modell kaufen, wenn der Preisunterschied großes Sparpotential birgt. Viel wichtiger als die Versionsnummer ist das Reifenalter. Wenn das Vormodell schon drei Jahre im Lager des Händlers liegt, würde ich von einem Kauf schon eher abraten. Manchmal produzieren Hersteller aber auch neue und alte Versionen gleichzeitig, dann muss man schauen, ob man lieber etwas sparen will oder die jeweiligen Technologiesprünge einem das Geld wert sind.
Was genau sind Technologiesprünge bei Reifen?
Es wäre seltsam, wenn ein neueres Modell schlechtere Eigenschaften hätte, als ein älteres, oder? Jeder Reifen wird kontinuierlich weiterentwickelt, was die Produkte stetig besser macht. Die höchste Perfomance, ob nun im sportlichen Grenzbereich oder in extremen Wettersituationen, habe ich in der Regel immer mit den neuen Modellen.
Must
Wann sollte ich einen Reifen ersetzen?
Im Zweifel dann, wenn der Händler beim Service darauf hinweist. Eigentlich sollte man sich aber mindestens einmal im Jahr mit dem Zustand seiner Reifen auseinandersetzen. Einfach mal eine Ein-Euro-Münze in das Profil halten. Sobald der goldene Rand sichtbar ist, ist es so weit. Besser wäre natürlich ein günstiger Reifenprofilmesser, die gibt es schon für unter fünf Euro.
Wie wirkt sich eine geringe Profiltiefe auf Reifen aus?
Besonders bei Nässe ändern sich bei abnehmendem Profil die Eigenschaften des Reifens. Vergleicht man zwei identische Reifensätze, einer neu, einer mit dem gesetzlichen Mindestprofil von 1,6 Millimetern, muss man bei Vollbremsungen mit den abgefahrenen Reifen auf Nässe bei 85 km/h mit rund 10 Metern mehr Bremsweg rechnen. Das steigt exponentiell zur Geschwindigkeit. Bei 120 km/h ist die Bremswirkung sehr stark reduziert, weil die Wasserverdrängung nicht mehr so gut funktioniert.
Last, but not least: Darf man Reifen eigentlich immer flicken?
Das kann man pauschal auf keinen Fall so sagen, nein. Schäden auf der Lauffläche lassen sich manchmal gut und schnell reparieren, ja. An der Flanke oder seitlich aber nicht. Hinzu kommt das Reifenmodell: Wenn es sich zum Beispiel um ein Exemplar mit hohem Geschwindigkeitsindex handelt, darf man es manchmal leider nicht mehr flicken. Im Grunde ist jeder Schaden ein Einzelfall – und ich empfehle grundsätzlich, sofern möglich, die Fahrt zum Profi. Die Leute schauen mit einem geschulten Blick auf die Reifen und können helfen. Für Laien würde ich günstige Reparaturkits nicht empfehlen.