„Platzkart“: Im Schlafsaal auf Rädern durch Russland
Bis 2028 will Russland seine erste Bahnstrecke für den Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen Moskau und St. Petersburg fertiggestellt haben. Die Fahrzeit auf den knapp 700 Kilometern soll sich dann auf zwei Stunden und 15 Minuten verkürzen. Das ist fast die Hälfte dessen, was heute der „Sapsan“, das ICE-Pendant von Siemens, für die Distanz benötigt. Und auch der stellt seit seiner Inbetriebnahme 2009 eher eine Anomalie im russischen Fernverkehr dar.
Im Schnitt 13 Stunden Fahrzeit
Bahnfahren in Russland ist typischerweise nicht Beschleunigung, sondern Entschleunigung. Im Durchschnitt seien die Fahrgäste ungefähr 13 Stunden unterwegs, schrieb die Wochenzeitung „Transport Russlands“ vor einem Jahr. Das entspricht in etwa der Strecke von Moskau nach Kasan.
Die Fortbewegung findet ganz überwiegend nicht im Sitzen, sondern im Liegen statt. Man fügt sich ins Unvermeidliche, dass es eben Zeit braucht, große Entfernungen zu überwinden. Im Falle des Schnellzugs Moskau-Wladiwostok sind es sechs Tage, 22 Stunden und 17 Minuten. Aber auch wenn zwischen Abfahrt und Ankunft nur eine Nacht liegt, wird die innere Uhr am besten ausgeschaltet. Es eilig zu haben, ist schwerlich mit dem Rhythmus einer Fernreise in Einklang zu bringen.
Für 140 Euro quer durchs Land
Was Bahnfahren unter solchen Umständen bedeutet, veranschaulicht die dritte Klasse. Unter den Schlafwagen ist sie die preiswerteste (die Fahrt von Moskau nach Wladiwostok kostet 15.589 Rubel, umgerechnet etwa 140 Euro) und beliebteste. Auf „Platzkart“, wie die Klasse mit einem deutschen Wort auch bezeichnet wird, entfallen ungefähr 70 Prozent aller Bahnreisenden. Hat ein Fernzug im Mittel 15 Waggons, so ist mindestens die Hälfte davon „Platzkart“.
Der Dritte-Klasse-Wagen „vom offenen Typ“, erfunden Mitte des vorigen Jahrhunderts, ist ein Muster an Raumausnutzung. Er besteht aus neun Vierer-Abteilen, die allerdings nicht durch Türen vom Gang abgetrennt sind, während auf dessen anderer Seite entlang der Wand weitere neun Doppelstockbetten angeordnet sind. Dadurch fasst der Waggon nicht 36 Personen wie die zweite Klasse, sondern 54.
Alles kann, nichts muss
Sich in einem solchen Schlafsaal auf Rädern wohlzufühlen, erfordert ein gewisses Maß an sozialer Kompatibilität. Aber wer sich einmal auf seiner Pritsche eingerichtet und in häuslich-legere Kleidung geworfen hat, der reist durchaus gemütlich, wenn auch mit der Zeit in leicht dösigem Zustand. Wer Glück mit seinen Mitreisenden hat, wird unterwegs in Gespräche über Gott und die Welt verwickelt.
Doch so nahe man sich schon rein räumlich auch kommt: Ein Rest von Privatsphäre bleibt immer gewahrt. Wer nicht reden, sondern lieber schweigen will, im Zweifelsfall auch tagelang, der schweigt eben. Alles kann, nichts muss. Nur das Essen und Teetrinken am gemeinsamen Tischchen erfordert ein Minimum an Absprache. Doch ansonsten kann sich jeder in sich zurückziehen, aus dem Fenster schauen, Kreuzworträtsel lösen oder 20 Folgen vom Lieblings-Podcast hören.
Ex-Bahn-Chef Jakunin wollte die „Platzkart“ als überholt abschaffen. Er nannte sie einmal „kollektiven Striptease“. Stattdessen wurde die Klasse in den letzten Jahren mit neuen Matratzen, Klimaanlage, Steckdosen und Vakuumtoiletten leidlich modernisiert. Und man wünscht ihr noch ein langes Leben.
Tino Künzel
Запись „Platzkart“: Im Schlafsaal auf Rädern durch Russland впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.