Einstimmig haben die AfD-Spitzen Alice Weidel als Kanzlerkandidatin nominiert, laut klatschen sie ihr zu. Doch die stärkste Frau der AfD bietet viel Angriffsfläche. Die Kameras knipsen, die AfD-Vorsitzenden aus Bund und Ländern lächeln. Thüringens AfD-Chef Björn Höcke steht in der ersten Reihe, weit rechts außen. Nach ein paar Minuten unterbricht ein Pressesprecher das Shooting: "Das reicht jetzt." Höcke sieht sich in der mit Journalisten gut gefüllten Geschäftsstelle der AfD um. "Dann gehen wir mal in den hinteren Bereich", sagt er. Genau das ist heute nicht nur Höckes, sondern aller Landesvorsitzenden Aufgabe: sich einreihen, sich im Hintergrund halten. Einigkeit und Loyalität soll die AfD ausstrahlen und zum ersten Mal in ihrer elfjährigen Geschichte die Bühne frei machen für nur eine Spitzenfrau, für ihre Kanzlerkandidatin, die gleich die Bühne betreten wird: Alice Weidel . Die Chancen der AfD, zu regieren, stehen bei null – schließlich will niemand mit ihr koalieren. Und mit rund 20 Prozent in den Umfragen bleibt die absolute Mehrheit ein Fiebertraum, den selbst die AfD-Funktionäre immer seltener formulieren. Doch 20 Prozent sind mehr, als die Grünen oder die SPD verbuchen. 20 Prozent, das bedeutet im Ampel-müden Deutschland: zweitstärkste Kraft. Eine Macht in der politischen Landschaft, die Koalitionen ohne sie in den Parlamenten immer schwieriger macht, die Regierungen immer wackliger. Und die mit Genuss von der Seitenlinie zuschaut. Für Weidel aber ist dieser Tag vor allem die innerparteiliche Krönung. Sie ist für die AfD gleich mehrfaches Novum: die erste alleinige Spitzenkandidatin, die erste Kanzlerkandidatin, die erste Frau in dieser Position, die erste lesbische und im Ausland lebende noch dazu. Eigentlich eine Unwahrscheinlichkeit, ein Faszinosum, das in der Vergangenheit von Parteikollegen oft angegriffen und schon abgeschrieben wurde. Beifall selbst von früheren Gegnern Dieser Samstag aber zementiert ihren Sieg über alle innerparteilichen Widersacher. Er ist das Signal: Mehr Macht als Weidel hat in der chronisch zerstrittenen AfD niemand. Auch nicht Höcke, den Medien in der Vergangenheit immer wieder als "heimlichen Parteichef" bezeichneten. Weidel hat geschickter Strippen gezogen; bessere Deals mit allen möglichen, auch den rechtsextremsten Lagern geschlossen; hat ihre Gegner zuhauf weggebissen; zudem jubeln ihr große Teile der Basis zu. Als "Stürmerin" wird sie ihr Co-Chef Chrupalla in einer Fußballanalogie bezeichnen. Hart, aggressiv, erfolgreich. Kurz bevor die Türen in der AfD-Geschäftsstelle in Berlin-Wittenau für die Journalisten geöffnet wurden, haben erst die Bundes-, dann die Landesvorsitzenden Weidel einstimmig zur Kanzlerkandidatin gewählt. Nicht eine Gegenstimme, keine Enthaltung. Niemand hätte es gewagt. Draußen protestieren Demonstranten mit Regenbogen-, SPD-, Linke- und Antifa-Flaggen: "Nie wieder Faschismus" steht auf einem großen Banner. "Heute ist ein großer Tag für die Partei und ein großer Tag für Deutschland", sagt Weidel, kurz nachdem sie die Bühne betreten hat. Die Landesvorsitzenden haben sich am Rand aufgestellt, im Pulk neben den Tischen für Journalisten. Sie klatschen. Bloß keine kritischen Fragen Weidel trägt ein langes Statement vor, das ihr Co-Chef Tino Chrupalla angekündigt hat als "dein Zukunftsplan für Deutschland". Es ist auf die Presse gemünzt: der Teil über Wirtschaft sehr lang, der Teil über Migration und Abschiebungen kurz, danach noch weniger Raum für kritische Fragen von den Journalisten. Wie es zusammenpasse, dass der Slogan der AfD "Zeit für Deutschland" laute – Weidel selbst aber in der Schweiz lebe, fragt da ein Reporter. Es ist seit Jahren eine beliebte Frage. Denn Weidel, die Chefin der nationalistischen AfD, wohnt in der Schweiz, hat dort eine Lebensgefährtin und zwei Kinder, die auch in der Schweiz zur Schule gehen. Dennoch gibt sie Überlingen, den Wohnort ihrer Eltern in Baden-Württemberg, als Hauptwohnsitz in Deutschland an. Weidel antwortet knapp und verschnupft. "Ich lebe nicht in der Schweiz", behauptet sie. Sie habe dort einen Wohnsitz – einen von zweien. Andere Politiker hätten schließlich auch "deutlich entspanntere Beziehungen", was das Leben im Ausland angehe. Dann, an ihren Pressesprecher gerichtet: "Haben Sie kommuniziert, dass wir hier unter Zeitdruck sind?" Bitte bloß keine kritischen Fragen. Das nämlich ist die Schwäche eines Faszinosums, eines Widerspruchs an der Spitze: Es gibt viele Inkonsistenzen, die von allen leicht adressiert werden können, die keine innerparteilichen Konsequenzen fürchten müssen. Weidel: "Wir sind abgestürzt" Weidel redet lieber und sehr viel länger über die Missstände, die sie aktuell in Deutschland sieht – und ihren Gegenentwurf dazu. Düster gegen strahlend, Angst gegen Sicherheit. "Wir waren ein prosperierendes Land, das unsere Großeltern, unsere Eltern aufgebaut haben", sagt sie. Ein Land mit günstiger Energieversorgung, Zukunftsperspektive, "Topausbildung", mit einer international führenden Automobilindustrie . Das alles aber sei vorbei. "Wir sind abgestürzt", sagt Weidel. "Das Rückgrat der deutschen Industrie wurde gebrochen." Energieabgaben und Verbote, "Schwachsinnigkeiten" wie das Lieferkettengesetz, dazu die Bürokratie, die Steuern- und Abgabenlast. Die freie Marktwirtschaft sei abgeschafft worden, stattdessen regiere ein "gefräßiger Steuerstaat, der Bürgern alles wegnimmt". Dazu noch die Migrantengewalt, die die deutsche Bevölkerung zu "Freiwild" mache – und die enormen Kosten für diese Migranten. "Zeit für Deutschland", betont Weidel den Wahlkampfslogan. "Wir denken, dass es endlich Zeit ist für unser Land, für unsere Kinder, für unsere Enkel." West vor Ost, "Herz über Kopf" Weidel zeigt hier die Strategie, der die AfD im gesamten Wahlkampf folgen dürfte: die Ängste der Bevölkerung noch gezielter adressieren als bisher, dabei speziell jene ins Visier nehmen, die nicht viel haben. Vor allem auf Migration, dann auf Wirtschaft setzen und so auch um die Wähler von CDU und BSW buhlen. Und emotional argumentieren – aber bloß nicht zu sehr provozieren, um die Wähler im Westen nicht abzuschrecken. "Etwa 80 Prozent der Wahlberechtigten leben in Westdeutschland", heißt es in einem Entwurf für ein internes Strategiepapier der AfD für diese Wahl. Es liegt t-online vor, zuerst berichtete der Deutschlandfunk darüber. Bei "Zielgruppenkonflikten" sollte diese Gewichtung in die "gesamtdeutsche Schwerpunktsetzung der Kampagne" einfließen. Die Botschaft ist klar: Der Westen hat bei dieser Wahl Priorität, der in der AfD so starke Osten muss hinten anstehen. "Je niedriger das Haushaltsnettoeinkommen ist, desto stärker schneidet die AfD ab", heißt es weiter. Und: "Der Erfolg der emotionalen Aussprache steht vor dem Erfolg der rationalen Ansprache, das Herz steht über dem Kopf", empfiehlt das Papier weiter. Auch in der Sprache sollten sich Funktionäre an den "existenziellen Bedürfnissen", vor allem in Verbindung mit "abstrakten Begriffen" orientieren: "Der Hunger nach Freiheit ist größer als der Wunsch danach." Hauptgewinnerthema für die AfD, so analysieren die Wahlkampfstrategen, ist dabei nicht die Wirtschaft, die Weidel so vor der Presse betont. "Unsere Wähler werden vor allem mit dem Hauptthema illegale Migration mobilisiert", steht da. Und die Zahlen in diesem Papier sprechen eine klare Sprache: 23 Prozent der befragten AfD-Wähler fühlten sich durch Weidel in ihrer Wahl bestärkt, 15 Prozent durch Co-Chef Chrupalla, nur sieben Prozent durch Parteivize Stephan Brandner. "Neun Prozent erklärten, dass sie unser Personalangebot von einer Wahl abhalten könnte." Migration dürfte spätestens im Januar zum Streitpunkt werden Weidel als Kanzlerkandidatin ist bei diesen Zahlen neben ihrer internen Macht für die AfD derzeit vor allem auch eine Entscheidung des Kopfes, nicht des Herzens. Beliebt an der Basis, mit der größten Bekanntheit, westdeutsch – und dem unschlagbaren Vorteil, dass sie als Frau, als Lesbe, die AfD im Westen als gemäßigt darstellen kann. Viele Verbände und Landeschefs aber wollen diesen Kurs eigentlich nicht. Besonders das Thema Migration, Kernthema der AfD, wollen viele radikaler bespielen. Im Osten ist das ohnehin der Ton – und auch in Bayern haben sie auf einem Landesparteitag gerade eine "Resolution zur Remigration" beschlossen, orientiert an den Ideen des Rechtsextremisten Martin Sellner. Ein Punkt darin, den viele in der AfD inzwischen als Alleinstellungsmerkmal der Partei sehen: Die AfD Bayern verlangt die Abschiebung von "Personengruppen mit schwach ausgeprägter Integrationsfähigkeit und -willigkeit" – Staatsangehörigkeit egal. Bedeutet: Wie in den Plänen von Sellner sollen auch deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund das Land verlassen, wenn sie sich aus Sicht der AfD nicht genügend eingliedern. Spätestens auf dem Parteitag im Januar, wenn das Wahlprogramm der AfD final verabschiedet wird, dürften sich zahlreiche Stimmen melden, die den nun vorliegenden Entwurf gerade in Fragen der Migration massiv verschärfen wollen. Darunter mit Sicherheit: das Lager des auf Parteitagen und gerade in inhaltlichen Fragen starken Björn Höcke. An diesem Samstag gibt Björn Höcke den Statisten, den Claqueur. In Fernsehkameras hinein erklärt er nach der Pressekonferenz: Er und Weidel hätten seit 2017 viele Gespräche geführt und gemeinsame Standpunkte entdeckt. Sie spiele nun die "erste Geige", wichtig sei nun die gemeinsame Partitur.