Analyse: Der Show-Parteitag
Die SPD wählt Olaf Scholz hochoffiziell zu ihrem Kanzlerkandidaten, klärt damit eine letzte Formalität. Wirklich aufschlussreich wird daher anderes sein.
Das Drehbuch lässt kaum Raum für große Überraschungen, nur fünf Stunden wollen sich die Sozialdemokraten zur Selbstvergewisserung gönnen und dann wieder in ihre Wahlkreise ausströmen. Schließlich ist Wahlkampf, die Zeit bis zur Neuwahl am 23. Februar denkbar knapp und der Rückstand zur Union noch immer beunruhigend groß.
Insofern stellt sich an diesem außerordentlichen Bundesparteitag für Olaf Scholz, Kanzler und nach diesem Samstag auch offiziell gewählter Kanzlerkandidat der SPD, die außerordentlich wichtige Frage: Wie ist es um die Motivation seiner Genossinnen und Genossen bestellt, für ihn in die "offene Feldschlacht" zu ziehen, die sich nach dem vorzeitigen Ampel-Aus aufgetan hat? Und wie wahrhaftig ist der Rückhalt?
Hoch die Hände
Die Unterstützung war nach dem Koalitionsbruch, also bis vor wenigen Wochen, nicht besonders ausgeprägt. Erst begehrte die Basis gegen den unpopulären Kanzler auf, dann rebellierten sogar einflussreiche Bundespolitiker, teils aus blanker Panik um ihre eigene Zukunft. Mit Beliebtheitsminister Boris Pistorius habe man bessere Chancen. Scholz sah es bekanntlich anders, saß das Aufständchen aus und lag somit richtig in der Annahme, dass seine Gegner Angst vor ihrer eigenen Courage hatten.
Sich diese Umstände wieder ins Gedächtnis zu rufen, ist zur Einordnung dieses SPD-Parteitags wichtig, obwohl eigentlich nur letzte Formalitäten geklärt werden. Denn natürlich werden die 600 Delegierten, die Scholz offiziell zum Kanzlerkandidaten küren und das Wahlprogramm beschließen werden, jede allzu offensichtliche Disharmonie vermeiden. Angesichts ihrer misslichen Ausgangslage kann es sich die SPD schlichtweg nicht leisten, Unentschlossenheit zu erwecken, zumal jeder kleinste Widerstand gegen ihren angeknacksten Kanzlerkandidaten diesen zusätzlich schwächen würde.
Stattdessen dürfte bei der offiziellen Krönungsmesse also unbedingte Eintracht demonstriert werden. Ein Show-Parteitag. Aufschlussreicher dürften daher die Nuancen im Halbverborgenen sein.
So soll Scholz etwa per Handzeichen als Kanzlerkandidat nominiert werden, nicht in geheimer Wahl. Offiziell, weil es sich um eine schnöde Sachfrage handle, man nominiere halt den Kanzler zum Kanzlerkandidaten – sei ja nichts Besonderes, gab’s früher schon mal. Stimmt auch. Allerdings drängt sich der Verdacht auf, dass möglicherweise einem Abstimmungsergebnis vorgebeugt werden soll, das nicht nur vorteilhaft für Scholz aussehen könnte.
Das Votum per Handzeichen wirkt im Licht der vergangenen Wochen daher wie eine disziplinierende Maßnahme. Delegierte, die Scholz ablehnen, müssten sich dazu öffentlich bekennen – für alle sichtbar, inklusive den anwesenden Medienvertretern. Das erhöht die Hemmschwelle, ist jedoch mit einem Restrisiko verbunden: Jedes tapfere Handzeichen gegen Scholz fällt besonders ins Gewicht.
Olaf Scholz in schwieriger Doppelrolle
Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sich eine nennenswerte Anzahl an Genossen derart exponieren wird. Trotzdem steht Scholz vor einer gewaltigen Herausforderung. Mit seiner Parteitagsrede – die Betonung liegt auf Partei – kann er die SPD entweder elektrisieren, für sich und den Wahlkampf. Oder paralysieren. Scholz muss beweisen, dass er den aktuell aussichtslos erscheinenden Kampf aufgenommen und einen belastbaren Plan hat, wie er diesen noch zu seinen Gunsten drehen kann. Schwierig genug. Dass Scholz gerade versucht, sich als Staatsmann mit klaren Prinzipien gegenüber dem Polit-Proll Donald Trump zu positionieren, könnte ein erster Hinweis sein. Zumal Worte gerade das einzige sind, womit der Kanzler ohne Kanzlermehrheit noch etwas ausrichten kann.
Wie zentral den Sozialdemokraten ihre Programmatik ist, und wie groß die Nervosität im Scholz-Lager, zeigt unter anderem das Ringen um Begrifflichkeiten. Rund 90 Änderungsanträge für das Regierungsprogramm soll es geben, bis zuletzt wurde beispielsweise verhandelt, ob die "Kindergrundsicherung" weiterhin so heißen soll – oder der Begriff gestrichen wird. SPD-Linke wollten an ihm festhalten, weil dieser etabliert sei. Das Scholz-Lager argumentierte dem Vernehmen nach, dass der Begriff "verbrannt" sei. Sozusagen kontaminiert durch die Ampel-Streitigkeiten, die zum kläglichen Scheitern des Vorhabens geführt hatten. Der Kompromiss, ist zu hören: Der Begriff soll im Programm stehen – aber losgelöst vom einstiegen Ampel-Vorhaben. "Das sind für uns weitere wichtige Schritte im Sinne unserer Kindergrundsicherung" soll es offenbar nach einer längeren Ausführung zur Kinder- und Familienpolitik heißen.
Das zentrale Problem des Kanzlerkandidaten Scholz bleibt aber die schwierige Doppelrolle, in der er für seine Partei in den Wahlkampf zieht. Als Kanzler steht er eben nicht nur für Erfahrung und Kompetenz, wie ihn die SPD einzurahmen versucht, sondern auch für das vorzeitige Ende einer dysfunktionalen Regierung und den Status Quo. Viele Wählerinnen und Wähler denken dabei nicht an die Gaskrise, die von der Ampel nach dem russischen Angriffskrieg tatsächlich souverän abgewendet wurde, sondern an die akute Wirtschaftsflaute und die Auswirkungen auf ihren Geldbeutel.
Um am 23. Februar erfolgreich zu sein, muss Scholz auch glaubhaft für einen Neustart stehen und zumindest die unrühmlichen Episoden der Ampel-Jahre abschütteln. Wie das gelingen soll, wird der Auftritt des Spitzenkandidaten zeigen. Das SPD-Drehbruch braucht einen gewaltigen Plot-Twist, ansonsten dürfte es bei der Wahl schlimm enden.