Fette Ferkel und der Traum von Europa
Samstagnachmittag gegen 16:15 Uhr werden landauf, landab ein paar gerötete Augen unter Gladbacher Fans vor TV-Geräten gesessen haben. Ob Tränen vor Freude oder ein ständiges Reiben daran schuld trugen, ist unerheblich. Sicher ist: Borussia zeigte an der Alten Försterei eine der besten Halbzeiten der vergangenen Jahre und legte den Grundstein für einen am Ende unnötig knappen 2:1-Auswärtssieg bei Union Berlin. Damit wurde nicht nur die Serie von nun vier Spielen ohne Niederlage (bei drei Siegen) fortgesetzt, sondern auch die von oft tragisch wie dämlichen Auswärtsniederlagen im Südosten der Hauptstadt. Borussia zeigt sich im Winter 2024/25 erstaunlich erwachsen und resilient, doch nun beginnt sie auch noch, fußballerisch zu glänzen. Die Reise geht weiter, der Traum von Europa darf geträumt werden, ohne mehr ausgelacht zu werden.
Gerardo Seoane nahm erwartungsgemäß nur eine Änderung vor: Sander ersetzte Florian Neuhaus im Mittelfeld, gleichwohl Letztgenannter beim Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt für alle überraschend sein ja durchaus vorhandenes Talent demonstriert hatte. Für die erwartbar und traditionell harte Gangart der Gastgeber hielt Seoane jedoch die körperliche Robustheit von Sander für eher geeignet, was sich als richtig herausstellte.
Union begann das Spiel aggressiv und hoch pressend, doch schon nach wenigen Minuten wurde deutlich, dass sie es einerseits nicht clever und konsequent genug anstellten, Borussia sich jedoch vielmehr mit einer spielerischen Leichtigkeit immer und immer wieder aus diesen Pressingmomenten befreien konnte. Die Folge waren teils spektakuläre Kombinationen mit One-Touch-Fußball, an deren Ende sich Räume im vorderen Drittel ergaben. Keine Spur mehr vom so oft gesehenen Angsthasenfußball. Ein Großteil der Pässe ging nach vorne, mit dem Ziel, den Gegner zu überspielen und eben nicht zurück. Beide Außenverteidiger, Joe Scally und Lukas Ullrich, starteten immer wieder Läufe über die Außen, erzielten so Überzahl im Mittelfeld. Die Zentrale aus Julian Weigl, Sander und Kevin Stöger agierte zudem extrem ballsicher.
Das frühe 1:0 durch Lukas Ullrich war dann gleichsam folgerichtig wie beispielhaft: Der junge Berliner leitet den Angriff selbst ein, lässt Josip Juranovic mit einem Haken ins Leere laufen, passt auf den Flügel zu Robin Hack und läuft im Vollsprint Richtung Strafraum. Ob Hack bei seiner Flanke tatsächlich Ullrich im Blick hatte oder nicht eher Tim Kleindienst, sei mal dahingestellt. Wie Ullrich dann den scharf getretenen Ball mit seinem schwachen rechten Fuß im vollen Lauf kontrolliert, um ihn dann in ebenso voller Bewegung per Vollspann in die Maschen jagt, war große Fußballkunst. Ullrich entwickelt sich nicht nur wegen des Tores immer mehr zu der positiven Überraschung der Saison. Vor zwei Wochen in Stuttgart bravourös gegen Nationalspieler Jamie Leweling, am Samstag dann ebenso konzentriert gegen Unions besten Torjäger, Benedict Hollerbach.
Es zeigt sich einmal mehr, welchen Einfluss der Faktor Selbstvertrauen im Leistungssport hat: Ballsicherheit, Überzeugung und Klarheit im Spiel – alles Faktoren, die Borussia sehr lange Zeit hat vermissen lassen, gleichwohl immer ausreichend fußballerisches Talent im Kader war.
Nach dem Führungstor gab es einen kurzen Schockmoment, als Torwart Moritz Nicolas bei einer eigentlich harmlosen Ballaktion ein Bein zu weit überstreckt und danach sofort anzeigte, ausgewechselt werden zu müssen (17.). So kam Jonas Omlin nach seiner Verbannung zur Nummer 2 wieder zum Einsatz und sogleich auch pflichtgemäß von Weigl die Kapitänsbinde überreicht. Bis auf einen kurzen zu übermütigen Moment nach wenigen Momenten Spielzeit, als Omlin zwei Meter vor der Torlinie den heranlaufenden Woo-Yeong Jeong ausstiegen ließ, zeigte sich der Schweizer souverän und mit der nötigen Präsenz im Strafraum.
Nach dem 1:0 durch Ullrich dominierte Borussia das Spiel nach Belieben. Union war angeschlagen, fand keinen Zugriff und die Elf vom Niederrhein zeigte bisweilen favre’sche Spielzüge und Kombinationen. Eine dieser Kombinationen mündete im 2:0 durch Kleindienst. Diesmal war es Scally, der den Ball über rechts nach vorne trieb, Stöger fand, der überlegt den durchstartenden Ngoumou bediente. Der Franzose, glücklicherweise mittlerweile halbwegs auf Bundesliga-Niveau angekommen, wartete genau den richtigen Moment ab, um mit einem flachen wie scharfen Pass Kleindienst zu bedienen, der aus einem Meter Entfernung wenig Probleme hatte, sein 14. Saisontor und das fünfte im fünften Spiel in Folge zu erzielen.
Wenn es etwas gab, das man der Mannschaft in dieser famosen Halbzeit noch hätte vorwerfen können, dann das Versäumnis, schon vor der Halbzeitpause endgültig den Stecker zu ziehen und die Überlegenheit in noch mehr Tore umzumünzen. Schade für den fleißigen und aktiven Hack, dessen fulminanter Schuss aus 20 Metern nach schönem Dribbling nur die Querlatte zum Zittern brachte. So blieb Borussia das vorentscheidende 3:0 und Hack ein sicheres Tor des Monats verwehrt.
Unions kultiger Kult-Trainer mit der Schiebermütze stellte seine Taktik zu Beginn des zweiten Abschnitts auf Dreierkette um, erzielte somit Überzahl im Mittelfeld und sofort hatte Berlin mehr Zugriff aufs Spiel. Borussia blieb unerklärlicherweise passiv, ließ die Gastgeber gewähren und so kam es, wie es borussisch oft kommen musste. Auch wenn Union kein fußballerisches Feuerwerk abbrannte, aber im Minutentakt flogen nun die Bälle in den Gladbacher Strafraum. Hollerbach hatte kurz nach Wiederanpfiff mit einem Schuss aus dem Rückraum schon die Chance auf den Anschluss, aber dann war es einmal mehr der VAR und Borussias Ungeschicktheit, die das Spiel wieder scharf stellten. Nach einer Flanke Unions kam es zum Dreikampf zwischen Stöger, Kleindienst und Berlins Tom Rothe. Dieser berührte Stöger leicht, wurde dann aber recht deutlich von Kleindienst geschubst. Eine klassische Kann-, aber nicht Muss-Entscheidung für einen Foulelfmeter. Schiedsrichter Jablonski entschied sich nach dem Studium der Wiederholung für das Muss: es stand 1:2 durch Andrej Ilic.
Natürlich war das Stadion nun da, Union blieb am Drücker, hatte Feldüberlegenheit, aber auch wenn diverse Live-Ticker des Tages etwas Gegenteiliges behaupteten, auch nicht die Dominanz, dass Borussia wirklich zittern musste. Dass in einem solchen Spiel - und in den letzten Jahren zu oft erlebt – doch noch ein Ball irgendwie durchrutscht, war natürlich nicht ausgeschlossen. Es spricht jedoch für die aktuelle Form und Phase Borussias, dass auch solche Partien der Kategorie „Dreckssieg“ inzwischen verbucht werden können. So brachte Borussia, einmal mehr angeführt von den starken Innenverteidigern Ko Itakura und Nico Elvedi, den Sieg nach Hause und verpasste zehn Minuten vor Schluss durch Kleindienst nach Konter sogar selbst das 3:1.
10 Punkte aus den vier Spielen gegen Bochum, Stuttgart, Frankfurt und Union, damit den schwachen Jahresauftakt 2025 mit den zwei Niederlagen gegen Wolfsburg (1:5) und Leverkusen (1:3) kompensiert. Borussia ist dran an den europäischen Plätzen, hat große Brocken bereits hinter sich und blickt nun auf die Aufgaben Augsburg (H), Heidenheim (A), Mainz (H) und Bremen (A). Man täte gut daran, diese Aufgaben mit der gleichen Konzentration und Klarheit anzugehen wie zuletzt und diese Partien nicht bereits als Pflichtsiege einzuplanen. Im letzten Saisondrittel stehen zwar noch schwere Auswärtsspiele in Dortmund und München an, ansonsten erlauben der Spielplan und die Verteilung von Heim- und Auswärtsspielen aber durchaus Raum für Rechnereien. Was Mut macht: Es fehlen in Honorat und Reitz aktuell zwei Leistungsträger, auch Alassane Plea ist nur bedingt einsatzfähig. Dennoch hält die Mannschaft aktuell das Niveau und hat aktuell einfach das Momentum.
Vielleicht gibt es ja am 34. Spieltag ein Endspiel um Europa im Heimspiel gegen den VfL Wolfsburg, denn wie schon der große Philosoph Roland Virkus gestern unnachahmlich feststellte: „Am Ende sind die Ferkel fett.“