Parlamentswahlen: Muss die AfD nur mehr Marine Le Pen wagen, um an die Macht zu kommen?
Die radikale Rechte in Frankreich ist mit Marine Le Pen auf Erfolgskurs. Der Chefredakteur des stern sieht Parallelen zur AfD. Wie die deutsch-französische Achse eine neue Bedeutung erhalten könnte – eine schlimme.
Vor einigen Wochen durfte ich einen König aus nächster Nähe bestaunen. Genau genommen war er kein leibhafter König, aber es handelte sich um die königlichste Variante eines gewählten Politikers, die vorstellbar ist: die des Président de la République, des Präsidenten von Frankreich. Emmanuel Macron war zum Staatsbesuch nach Berlin gekommen, es ging um Annäherung, gerade zwischen ihm und dem spröden Herrn Scholz aus Hamburg. Die beiden lachten und scherzten viel, Macron sprach gar ein paar Sätze Deutsch. Aber es wurde mit jedem Auftritt, mit jeder Stunde Verspätung im Zeitplan klarer: Hier lebt einer nach seinen ganz eigenen Regeln, und zwar Le Président. Olaf Scholz hat eine Aktentasche, die er selbst trägt. Emmanuel Macron hat eine Hoffotografin, die jeden Moment seiner Präsidentschaft kunstvoll dokumentiert, gern in dramatischem Schwarz-Weiß.
Ich musste an diesen bürgerlichen König denken, als wenig später die Nachricht von Neuwahlen erst Frankreich, dann den Kontinent, schließlich die Börsen erschütterte. Es war eine einsame Entscheidung, beschlossen in Macrons Küchenkabinett, das sie in Frankreich "cabinet noir" nennen – und das so düster meinen, wie es klingt. Es war auch eine sehr persönliche Reaktion auf eine sehr persönlich empfundene Kränkung: Wenn ihr mich nicht wollt, so war das zu verstehen, dann riskiere ich halt alles. Der Präsident sei "isoliert, im Vertrauen nur auf sein Talent", sagt der bekannte Historiker Pierre Rosanvallon.
Marine Le Pen hat die radikale Rechte bürgerlich aufpoliert
Also könnte das Experiment Macron – denn das war sein Versuch, an den bestehenden Parteien vorbei eine neue Bewegung zu gründen – ein ganz anderes Experiment hervorbringen: Was, wenn bei unseren Nachbarn die radikale Rechte bald mitregiert, gar den Premierminister stellt? Wird sie dann wirklich entzaubert, wie manche von Macrons Verteidigern hoffen? Oder wird ganz rechts ganz normal? Den Prozess der "normalisation" hat Le Pen vor Jahren begonnen, als sie den französischen Rassemblement National (RN) aus dem politischen Paria Front National formte. Normal bleibt freilich noch immer, dass ihre Partei Ausländer als Menschen zweiter Klasse ansieht.
Wir blicken fasziniert nach Frankreich, unseren wichtigsten Partner in Europa, politisch wie wirtschaftlich. Wir blicken aber auch dahin, weil Vergleichbares bei uns ja keineswegs mehr undenkbar ist. Ist die Entwicklung des RN eine Blaupause für die AfD? Müssen Weidel, Höcke und Co. – oder deren Nachfolger – nur mehr Le Pen wagen, um selbst an die Macht zu kommen? Wie unser AfD-Experte Martin Debes recherchiert hat, steht ein neues AfD-Netzwerk mit allen wichtigen Rechtsparteien in Europa in engem Kontakt.
Das Lieblingswort der Netzwerker lautet Professionalisierung. Vorbilder sind die Freiheitliche Partei Österreichs, die Fratelli d’Italia und eben Le Pens RN. Von Le Pen lernen heißt: lernen, wie man eine Partei strukturell reformiert und bürgerlich aufpoliert. Auf die AfD übersetzt hieße dies: Alice Weidel repräsentierte als Vorsitzende die AfD nach außen, während ein weniger polarisierender, aber umso strukturierterer Generalsekretär das operative Geschäft führte – ähnlich der Arbeitsteilung von Le Pen und ihrem jungen Parteichef Jordan Bardella. Kommt es dazu, könnte die deutsch-französische Achse eine ganz neue, eine schlimme Bedeutung erhalten.