FDP Thüringen: Unter Desperados: Kubicki, Kemmerich und die Kampagne gegen Berlin
In Thüringen macht der FDP-Spitzenkandidat Wahlkampf gegen die eigene Bundespartei. Dabei kann er sich auf einen alten Kumpel verlassen.
Der Mann, der für die FDP als Vizepräsident des Deutschen Bundestages amtiert, lehnt lässig an einem Geländer. Das sonnengerötete Gesicht wird von der strahlend weißen Olympia-Trainingsjacke kontrastiert. Im Hintergrund sind glitzerndes Wasser und Segelboote zu erkennen. Der Mann sagt in die Handy-Kamera: "Mein Name ist Wolfgang Kubicki und ich unterstütze Thomas Kemmerich bei der Landtagswahl in Thüringen am 1. September."
So beginnt das kurze Video, das gerade als Anzeige in den sozialen Netzwerken verbreitet wird. Ein FDP-Bundespolitiker wirbt für einen regionalen FDP-Spitzenkandidaten. Alles ganz normal also.
Oder eher nicht.
FDP fasste nie da gewesenen Beschluss
Es ist fast vier Jahre her, dass die Bundesspitze der FDP einen bis dahin nie da gewesenen Beschluss fasste. Der zentrale Satz lautete: "Der Bundesverband wird eine Spitzenkandidatur von Thomas Kemmerich bei der nächsten Wahl des Landtags von Thüringen nicht unterstützen."
Grund dafür war eine ziemlich verrückte Kette von Ereignissen, an die sich Bundeschef Christian Lindner nur ungern erinnern dürfte. Im Februar 2020 hatte Kemmerich seine Wahl zum Ministerpräsidenten mithilfe der AfD ohne Zögern angenommen, nur um wenig später wieder zurücktreten zu müssen.
Was folgte, war sogar noch erstaunlicher. So, als sei nichts gewesen, machte Kemmerich einfach als Chef von Landespartei und Landtagsfraktion weiter und produzierte dabei neue Eklats. Er demonstrierte gemeinsam mit Querdenkern und Rechtsextremen gegen die Corona-Maßnahmen und schob jedwede Verantwortung für sein Regierungsdebakel von sich. "Nicht die Annahme der Wahl war der Fehler", twitterte er, "sondern der Umgang der anderen demokratischen Parteien mit der Situation."
Lindner distanzierte sich von Kemmerich
An dieser Stelle hatte Lindner genug. "Das FDP-Präsidium distanziert sich geschlossen von den aktuellen Äußerungen von Thomas Kemmerich", hieß es im Oktober 2020 in der Pressemitteilung. Es werde "keinerlei finanzielle, logistische oder organisatorische Unterstützung" für ihn als Spitzenkandidaten durch den Bundesverband geben.
Kubicki war damals bereits das, was er auch heute noch ist: Lindners erster Stellvertreter. Doch er äußerte sich öffentlich nicht zu dem Beschluss. Stattdessen sprach Vorstandsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Kemmerich sei "irgendwann falsch abgebogen und nicht mehr umgedreht", twitterte sie. "Es wird Zeit, dass du jetzt die Ausfahrt nimmst. Tschüss."
Doch da irrte sie, so wie alle anderen. Kemmerich verlor zwar seine Posten im FDP-Bundesvorstand und als Chef der liberalen Mittelstandsvereinigung. "Tschüss" sagte er aber überhaupt nicht. Ein knappes Jahr später wählte ihm die Thüringer FDP erneut zum ihrem Chef, wofür eigens, wer sonst, Wolfgang Kubicki anreiste.
06: Thüringer FDP wählt Landeschef Kemmerich zu Spitzenkandidat für Landtagswahl - 900cc7a2fed6a60f
Egal, was Kemmerich fortan noch widerfuhr, sei es, dass ein Gericht sein Stadtratsmandat in Erfurt annullierte oder dass die FDP im Landtag ihre Fraktionsstatus verlor: Die kleine Landespartei stand zu ihrem Vorsitzenden – und nominierte ihn als Spitzenkandidaten. Gegenkandidaten gab es keine.
Die Bundespartei kappte daraufhin wie angekündigt alle Überweisungen. "Keinen Cent" werde es für den Wahlkampf in Thüringen geben, verlautete aus Berlin. Doch Kemmerich kümmerte das nicht. Er hatte längst begonnen, Spenden einzutreiben, bei Unternehmern, Freunden und sonstigen Menschen, die ihn, den Kurzzeit-Ministerpräsidenten a. D., immer noch gut finden.
Finanziell, sagt Kemmerich, sehe es prima aus. 550.000 Euro habe die Landespartei inzwischen eingetrieben – und damit 300.000 Euro mehr als vor fünf Jahren. Damit sei der Zuschuss der Bundespartei, der vor fünf Jahren etwa 350.000 Euro betragen habe, nahezu kompensiert. "Es läppert sich", sagt er.
Der Spitzenkandidat stilisiert sich als Renegat
Im Ergebnis ist die FDP im Wahlkampf sehr sichtbar. Vor allem in den Städten hängen Plakate mit dem Konterfei des Spitzenkandidaten, wobei er versucht, seine Niederlage von 2020 offensiv ins Gegenteil zu wenden. "Zurückgetreten, um Anlauf zu nehmen", steht auf einem Plakat, auf dem auch wieder die schwarzen Cowboystiefel zu sehen sind. Sein Lieblingsschuhwerk stand schon 2019 im Zentrum der Kampagne.
Fast schon genüsslich stilisiert sich Kemmerich als Renegat, als politischer Desperado. Ein Kinospot, der in dunklem Schwarz-Weiß gehalten ist, zeigt zuerst nur die Konturen des Kandidaten. Dazu raunt eine Stimme auf dem Off zu düsterer Westernmusik: "Der meist umstrittenste Mann in Berlin ist ein Thüringer. Sie sagen, er ist ein Rechter und habe seine Seele verkauft. Sie wollen ihn loswerden mit allen Mitteln. Doch daraus wird nichts!" Am Ende schwillt die Musik triumphierend an, während Kemmerich die Zuschauer anschaut und sagt: "Wer Thüringen liebt, wählt mich."
Kemmerich fordert Ausstieg aus der Ampel-Koalition
"Berlin" dient hier natürlich als Synonym für die Koalition, an der die FDP beteiligt ist. Je näher der Wahltermin rückt, umso ungenierter macht Kemmerich Wahlkampf gegen die eigene Bundesregierung. Auf der Wahlkampfseite der Thüringer Liberalen steht in Großbuchstaben: "Jede Stimme für Kemmerich ist eine gegen die Ampel."
Dem stern sagt der Spitzenkandidat: "Ich denke, es hat keinen Sinn mehr, die Ampel fortzusetzen." Die SPD wolle nicht an die Auswüchse der Sozialleistungen heran und die Grünen hielten an der überflüssigen Kindergrundsicherung fest, während gleichzeitig die Wirtschaft abschmiere. Daraus folge: "Der Punkt ist erreicht, an dem die FDP das Richtige für Deutschland tun und aus dieser Koalition aussteigen sollte."
Natürlich weiß Kemmerich, dass Lindner nichts mehr darauf gibt, was er sagt. Vielmehr dürfte die Bundespartei darauf setzen, dass sich das Thüringer Problem bei der Wahl von selbst erledigt. In den Umfragen steht die Landespartei bei 2 Prozent. Nur wenige glauben noch daran, dass Kemmerich das Kunststück von 2019 wiederholt, als die FDP mit 5,0066 Prozent in den Landtag einzog.
Kemmerich zitiert lieber andere Umfragen. Sie besagen, dass ihn 80 Prozent der Wahlberechtigten kennen und 18 Prozent mit seiner Person zufrieden sind. "Ich glaube fest daran, dass wir es wieder in den Landtag schaffen", sagt er.
Und dann? Würde er wieder, im Fall der Fälle, erneut als Ministerpräsident kandidieren? "Ich behalte mir vor, für jedes Amt zu kandidieren, das sich anbietet", antwortet Kemmerich auf diese Frage. Und ja, er nähme auch die Wahl wieder an, egal, ob die AfD für ihn stimme. Denn: "Das wäre keine Zusammenarbeit, die für mich ganz klar ausgeschlossen ist.“
Ob Kubicki dann immer noch Kemmerich so toll fände? Ausgeschlossen wäre dies jedenfalls nicht. Schließlich bezeichnete er 2020 die Ministerpräsidentenwahl seines Kumpels in einer ersten Reaktion als "großartigen Erfolg".