Nahost: Als ich hinter Sonneberg über den Todesstreifen fuhr
Vor den Landtagswahlen hat die nächste Ost-West-Debatte begonnen. Wir sollten sie diesmal etwas anders führen.
Sonneberg liegt fast in Bayern. Aber eben nur fast. Die Linie, die einst in Jalta gezogen wurde und die über Jahrzehnte zwei atomwaffenbewehrte Blöcke voneinander trennte, verläuft ein paar hundert Meter südwestlich der Stadt.
Thüringen wurde damals den Sowjets zugeschlagen und Bayern den Amerikanern. Damit wurde Sonneberg eine Kreisstadt der DDR und das nahe Coburg eine Kreisstadt der BRD. Dazwischen befand sich eine unüberwindliche Installation aus Wachtürmen, Stacheldraht und Selbstschussanlagen. Der Todesstreifen.
Ich überfuhr ihn in der Nacht zum 12. November 1989. Mein Freund Stefan saß auf dem Sozius. Wir waren knapp 18 und mühten uns in unseren Robby-Jeans um Coolness. Wir wollten uns dem Kapitalismus nicht widerstandslos hingeben.
Wir erreichten die glitzernde Innenstadt Coburgs, gingen in die Geschäfte mit all den Dingen, die wir nur aus dem Westfernsehen oder dem Intershop kannten und trafen ausschließlich nette Menschen, die uns mit Mumm-Sekt abfüllten und zu einer kleinen Postfiliale lotsten, wo wir rasch an unserer Begrüßungsgeld kamen. Stefan und ich sprachen mit ihnen darüber, dass wir die 100 D-Mark als beschämendes Geschenk empfanden.
Die Coburger, die uns halb belustigt, halb beeindruckt anstaunten, hatten doch nur Glück gehabt. Ihre Vorfahren hatten sich, als mit dem Kaiserreich auch das Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha verging, per Volksentscheid von Thüringen abgewandt und für Bayern entschieden. Das machte sie später zu Gewinnern der Geschichte.
Schließlich, es dämmerte schon, schlängelten wir uns durch den Stau aus Trabis, Wartburgs und Ladas nach Sonneberg, zurück zu den Verlierern. Wir waren wieder in der DDR, die in den Farben Grau und Braun oszillierte und nach Verfall und Kohlenmonoxid roch.
Der eiserne Vorhang als Autobahnabfahrt
Dennoch war ich euphorisch. Ich spürte das, was ich schon auf den Demonstrationen gespürt hatte. Von jetzt an würde alles anders werden. Wie genau, wusste ich zwar nicht. Aber es konnte nur besser sein.
Am Dienstag dieser Woche fuhr ich wieder mal nach Sonneberg. Seit es die A73 gibt, führt die schnellste Strecke von Erfurt, wo ich lebe, durch den Kreis Coburg. Der eiserne Vorhang ist jetzt eine Autobahnabfahrt.
Im Vorbeifahren registrierte ich, wie sehr sich vieles nivelliert hat. Die Oberfranken sind nicht unbedingt reich, vor allem nicht in Neustadt, das direkt an der Grenze liegt. Der Zustand der Häuser und der Straßen, die Abfolge von Döner, Spielothek und Lidl: Alles sieht so ähnlich aus wie im benachbarten Sonneberg.
Der erste und einzige AfD-Landrat
Ein Unterschied fiel natürlich auf: In Thüringen wird am 1. September der Landtag gewählt. Gleich hinter dem alten Grenzübergang, an dem jetzt ein McDonalds steht, hingen die ersten blauen Plakate. Die AfD stellt in Sonneberg ihren einzigen Landrat und seit einigen Monaten auch die größte Fraktion in Kreistag und Stadtrat. Bei der Europawahl im Juni kam die Partei im Landkreis auf 38,4 Prozent.
Im Kreis Coburg, der beinahe in der DDR gelandet wäre, waren es 15,8 Prozent.
Die Grenze zwischen Bayern und Thüringen verläuft auch heute nicht bloß zwischen zwei Bundesländern. Sie verläuft zwischen zwei gesellschaftlichen Aggregatzuständen. Obwohl die Region wieder strukturell zusammengewachsen ist, die Menschen hin und her pendeln und gemeinsam ein freundliches Fränkisch sprechen, unterscheidet sich nicht nur ihr Wahlverhalten.
Am Abend saß ich auf der Bühne des Sonneberger Gesellschaftshauses, um an einer Gesprächsreihe des Schriftstellerverbands PEN teilzunehmen. Es ging um Meinungsfreiheit und darüber, ob sie eingeschränkt oder gar bedroht sei.
Das Publikum war so, wie ich es schon bei Buchlesungen in Thüringen kennenlernte, zurückhaltend, höflich und ja, etwas älter. Alle Befürchtungen, dass jemand zum Pöbeln oder gar Randalieren kommen würde, bewahrheiteten sich nicht. Dafür wurde viel debattiert, über Krieg und Frieden, über Ost und West, und darüber, warum die Medien, also auch ich, immer nur dann vorbeikommen, wenn mal wieder jemand in einer sommerheißen Nacht "Heil Hitler" ruft.
Jemand sagte, dass es doch merkwürdig sei, dass nach 35 Jahre noch zwischen diesseits und jenseits der Grenze unterschieden werde. Dabei hätten viele, die jetzt in Sonneberg lebten, die DDR gar nicht mehr erlebt.
Ja, es ist merkwürdig. Aber es lässt sich erklären. Denn so sehr sich Coburg und Sonneberg inzwischen äußerlich gleichen mögen, so unterschiedlich sind die ökonomischen, sozialen und demographischen Verhältnisse. Hinzu kommt: Die autoritären Prägungen durch die DDR, die der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk laut problematisiert, wirken ebenso nach wie die Demütigungen der Vereinigung, die Dirk Oschmann In seinem Buch wütend beschrieb. Und sie vererben sich, von Generation zu Generation.
Dummerweise ist auch diese Angelegenheit eher komplex. Zuspitzungen mögen sich dafür eignen, um Debatten zu beginnen. Aber sie helfen nicht dabei, sie differenziert zu führen. Als ich von Sonneberg nach Hause fuhr, von Thüringen nach Thüringen, und dabei die Schleife über den einstigen Todesstreifen nahm, dachte ich an Stefan, der vor einem Jahr starb. Und ich dachte daran, dass das Leben zu kurz ist, um sich die eigenen Schnellurteile immer wieder neu zu bestätigen.