Ein Hoch aufs Gehen: Ode an den Neujahrsspaziergang: Vom großen Glück, ins Leere zu laufen
Ausschlafen, frühstücken – Neujahrsspaziergang! Warum es unsere Autorin jedes Jahr wieder glücklich macht, am 1. Januar die Tür zu öffnen und eine große Runde zu drehen.
Wenn Sie diesen Text lesen, bin ich vermutlich gerade wieder draußen.
Ich bin schon immer gern gegangen. Als Kind kannte ich jeden Park, Wald und Hügel in meiner Heimat Wuppertal. Ich ging zu Fuß zur Schule, zählte die vielen Stufen der vielen Treppen, für die meine Stadt leidlich berühmt ist. Immer wieder fand ich neue Schleichwege durch Hinterhöfe und Unterführungen oder an stillgelegten Bahngleisen entlang.
Im Urlaub lief ich stundenlang auf Deichen und an Nordseestränden. Die Insel Langeoog kannte ich mal auswendig, das Bergische Land zumindest in Teilen. Und als Einzige meiner Klasse freute ich mich über Wandertage in der Eifel – im November. Später, an der Uni, drehte ich in Freistunden meine Runden im grauen Ruhrgebiet. Nachts lief ich von Partys zu Fuß nach Hause. Ich hätte ein Taxi rufen können. Aber wozu?
Inzwischen wohne ich in Hamburg, in einem Viertel mit Schrebergärten, kleinen Kanälen und Parks, die ein Netzwerk aus Schotterwegen und winzigen Pfaden durchzieht. Ein Paradies für Gehende wie mich. Hier steht mir jede Himmelsrichtung offen.
Ausschlafen, frühstücken, Schuhe binden – Neujahrsspaziergang
Natürlich beginnt auch jedes neue Jahr für mich mit einem Spaziergang. Ausschlafen, frühstücken, Schuhe binden, und dann raus. Mal gehe ich mit der Familie, mal allein. Dieses Jahr leihe ich mir wahrscheinlich einen Hund.
Was mich am Spazierengehen reizt? Nicht sehr viel, und das ist vermutlich schon das Geheimnis. Einige loben ja das Meditative am Gehen und Atmen. Mancher Kollege beschwört die genialen Sätze, die ihm unterwegs schon eingefallen sind. Andere haben irgendwann aufgerüstet, vom Gehen zum Walken, mit Stock und Fitness Tracker. Oder "nutzen die Zeit" und hören Podcasts unterwegs.
Für mich war Gehen immer nur das große Glück, ins Leere zu laufen. Noch nicht genau zu wissen, wo man landet und wie groß die Runde wird. Wenn ich losziehe, nehme ich weder Schrittzähler noch Kopfhörer mit. Ich öffne einfach die Tür und betrete eine magische Lücke im Tag. In der im Wesentlichen NICHTS passiert.
Ich ging im Walde
so vor mich hin,
und nichts zu suchen,
das war mein Sinn,
schrieb Goethe einst über einen Spaziergang, an dessen Ende der Spaziergänger ein Blümlein ausgräbt und sacht nach Hause trägt. Ich brauche nicht mal ein Blümlein.
Luxuriöse Ereignislosigkeit – mit allen Optionen
Mir reichen die kleinen Mitbringsel im Kopf, die jeder Spaziergang einem zwangsläufig anträgt: ein bisschen Vogelzwitschern, Wind, Sonne oder Regen, Menschen mit Hunden, Rotkehlchen in der Hecke, Kitakinder auf Spielplätzen. Gerade genug Details, um die Langeweile vom Gehirn fernzuhalten.
Aber ansonsten: luxuriöse Ereignislosigkeit. Und auch noch voller Optionen: Man kann sich spontan nach Norden wenden oder nach Süden, nach Luv oder Lee, kann walken oder schleichen, eine Freundin mitnehmen, einen Kaffee oder ganz allein seinen Gedanken nachhängen. Die sich beim Gehen meist wie von selbst sortieren.
Besonders groß ist die Leere, und damit mein Glück, am 1. Januar. Man ist noch müde, Hamburg liegt einem im Nieselregen zu Füßen, Glas von Silvester knackt unter den Schuhen. Doch spazierend scheint der Tag offen und verheißungsvoll – und alles möglich. Als hätte jemand am Weg und an der Zeit gedreht. Zurück auf Los. Neuer Versuch.
Wie kräftezehrend oder nervig das verstrichene Jahr auch gewesen sein mag: Das nächste kann nur besser werden. Und obwohl man keinen Plan hat, hat man bereits Pläne: Was würde man gern alles schaffen oder besser machen? Wen endlich anrufen oder besser noch besuchen? In welche Städte reisen? Und wo war doch gleich die Gitarre geblieben? Die könnte auch mal wieder entstaubt werden.
Falls Sie nicht glauben mögen, wie gut sich spontanes Spazieren anfühlt: Öffnen Sie an Neujahr Ihre Tür. Ignorieren Sie gegebenenfalls das Wetter. Wenden Sie sich nach links, an der nächsten Kreuzung nach rechts, dann wieder nach links. Machen Sie so weiter. Nach einer halben Stunde werden sie irgendwo landen, wo Sie vermutlich nie hinwollten. Und vielleicht, ganz vielleicht, werden Sie es großartig finden.