Einfach erklärt: Es war einmal ... eine Staatskrise in Südkorea
Das Chaos in Südkorea im Schnelldurchlauf: Gezänk, Kriegsrecht, Proteste, Absetzung – und jetzt Verhaftung. Wer es genauer wissen will, der lese diesen Artikel.
Gegen das, was am und nach dem 3. Dezember 2024 in Seoul geschah, wirkt das Ampel-Aus in Deutschland wie ein versemmeltes Uni-Projekt.
Ein Staatsoberhaupt, das mit Grabesmiene das Kriegsrecht aufruft, wutentbrannte Menschen, die auf die Straßen stürmen, Soldaten, die das Parlament umstellen – die Bilder aus der südkoreanischen Hauptstadt waren tatsächlich dramatisch.
Was geschah in der Nacht des 3. auf den 4. Dezember 2024?
Um 22.29 Uhr koreanischer Zeit trat Yoon Suk Yeol unangekündigt vor die Kameras. Die Hände quasi auf das Rednerpult getackert sagte er, ohne auch nur eine erkennbare Emotion:
"Liebe Mitbürger, ich rufe das Kriegsrecht aus, um die Republik Korea vor der Bedrohung durch kommunistische Kräfte aus Nordkorea zu schützen."
Die Nationalversammlung sei zu einer "Höhle Krimineller" verkommen, das seien "skrupellose Kräfte", die "die Freiheit und das Glück unseres Volkes plündern", ja die es "unverzüglich auszurotten" gelte! Beweise? Fehlanzeige.
In Wahrheit hatten sich die Konservativen, die eine Minderheitsregierung anführen, immer wieder und zuletzt im Haushaltsstreit einmal zu oft an der Opposition die Zähne ausgebissen. Weil deren größte Partei – die Sozialliberalen – aber tatsächlich auf Annäherung mit dem bösen Raketenmann im Norden setzt, lockte die Geschichte vom Verrat. Das hoffte zumindest Yoon.
Das Kriegsrecht werde natürlich "einige Unannehmlichkeiten mit sich bringen", stellte er in Aussicht. "Bitte vertrauen Sie mir", endete Yoon seine Ansprache. Die Südkoreaner taten es nicht. Stattdessen: Chaos.
Die oppositionelle Demokratische Partei, die allein 170 der insgesamt 300 Abgeordneten stellt, rief umgehend zur Dringlichkeitssitzung. Doch noch während die Politiker zum Gukhoe (Parlament) eilten, übertrug das Militärkommando der konservativen Regierung nahezu absolute Macht. Wer gegen das Dekret verstieß, sollte ohne Haftbefehl festgesetzt werden.
Damit die Oppositionellen erst gar keine Gelegenheit bekämen, über das Kriegsrecht abzustimmen, umzingelten hunderte schwer bewaffnete Soldaten das Parlamentsgebäude, mutmaßlich auf Yoons persönlichen Befehl hin. Der Vorsitzende der Demokraten, Lee Jae-myung, rief die Südkoreaner per Livestream aus dem Auto auf, zum Parlament zu kommen, um den Abgeordneten einen Weg hinein zu bahnen. Die Bilder, wie die über Barrikaden kletterten und Soldaten mit Feuerlöschern besprühten, um ins Parlament zu kommen und dem Spuk ein Ende zu setzen, gingen um die Welt:
Obwohl Soldaten sogar Fenster einschlugen, um in den Plenarsaal zu gelangen und die Abgeordneten aufzuhalten, stimmten 190 von ihnen gegen 1 Uhr einstimmig für die Aufhebung des Kriegsrechts – darunter 18 von Yoons eigenen Leuten. Der Polizei und den Soldaten reichte es, sie zogen ab. Wenig später, am frühen Morgen, kassierte das Kabinett das Kriegsrecht offiziell ein. Yoons Rebellion, wenn es denn eine war, dauerte sechs Stunden.
Was passiert danach?
Während die Demonstrationen auf den Straßen so richtig Fahrt aufnahmen, verbrachten die Parlamentarier die folgenden Tage mit Fingerzeigen. Die Opposition wollte Yoon natürlich drankriegen. Dessen Verbündete wiederum setzten alles daran, es gar nicht erst zur Abstimmung über ein Amtsenthebungsverfahren kommen zu lassen. Südkorea Prüfungen 9:37
Die Pflichttreue hielt nicht lange. Schon am 6. Dezember sprach sich Han Dong-hun, der Chef der Konservativen, dafür aus, Yoons Befugnisse auf Eis zu legen. Schließlich bestünde "ein erhebliches Risiko extremer Handlungen". Soll heißen: Achtung, der könnte es nochmal versuchen!
Und was tat Yoon? Der warf erst einmal den Mann, der ihm mutmaßlich erst zu alldem geraten hatte, der Staatsanwaltschaft vor die Füße: seinen Verteidigungsminister. Der versuchte noch kurz vor seiner Festnahme, sich das Leben zu nehmen.
Weil sich seine Parteiführung ziemlich zügig von ihm abwandte, schwenkte Yoon auf Reue um – wohl wissend, dass er immer noch genug Abgeordnete auf seiner Seite hatte. Er entschuldigte sich in einer Live-TV-Ansprache bei den Südkoreanern, die Proteste gingen dennoch weiter.
Die erste Abstimmung über ein Amtsenthebungsverfahren scheiterte dann zunächst an der notwendigen Zweidrittelmehrheit. Doch der zweite Anlauf glückte. Der Antrag kam durch, 204 Abgeordnete, darunter zwölf Konservative, stimmten dafür. Yoon, obwohl weiter formell im Amt, verlor all seine präsidialen Befugnisse. Han, die bisherige Nummer 2, übernahm. Zumindest für knapp zwei Wochen. Dann stand der nämlich selbst vor einem Amtsenthebungsverfahren – die Retourkutsche dafür, dass Han sich geweigert hatte, Verfassungsrichter nachzubesetzen, in deren Händen Yoons politisches Schicksal liegt. Die trafen sich diesen Dienstag zur ersten offiziellen Anhörung. Das Ganze dauerte eine Zigarettenlänge. Wo kein Angeklagter, da kein Richter.
Wie kam es zu Yoons Verhaftung?
Nachdem sich Yoon mehrfach geweigert hatte, zu einer offiziellen Befragung zu erscheinen, erließ ein Seouler Richter (separat vom Verfassungsgericht) am 31. Dezember Haftbefehl. Der Vorwurf: Aufruhr. Würde Yoon schuldig gesprochen, drohte ihm ein Lebensabend hinter Gittern – oder gar der Tod.
Die Behörden bekamen ihn allerdings nicht in die Finger. Beim ersten, erfolglosen Versuch, den Präsidenten in Verhörgewahrsam zu nehmen, gerieten die Ermittler mit dessen Sicherheitskräften aneinander. Seine Garde hielt zu ihm, fest saß der König ohne Thron trotzdem. Ins Ausland konnte Yoon nicht fliehen, das Justizministerium hielt ihn am Boden. Mangels Alternativen verschanzte sich der Gesuchte mit seiner kleinen Armee hinter den mit Stacheldraht bewehrten Mauern seines Anwesens.
Irgendwann platzten offenbar den entscheidenden Leuten die Kragen. Jedenfalls stürmten am Mittwochmorgen Tausende Polizisten und Agenten der Antikorruptionsbehörde CIO, mit einem frischen Haftbefehl bewaffnet, Yoons Anwesen. Diesmal gab der präsidiale Sicherheitsdienst klein bei, ihr Schützling ließ sich widerstandlos abführen.
Warum nicht gleich so? Zuständigkeitswirrwarr. Nicht nur die Staatsanwaltschaft, sondern auch die Polizei und die Antikorruptionsbehörde ermittelten gegen ihn – nur eben jeder für sich. Erst kürzlich hatten sie sich zusammengerauft: Die CIO, die kleinste und jüngste der Behörden, hat fortan den Hut auf, die Polizei gibt den Freund und Helfer, die Staatsanwaltschaft kümmert sich um Yoons mitangeklagte Mitarbeiter. STERN PAID Film Südkorea 16.30
Ob die Ermittler ihn, den ehemaligen Generalstaatsanwalt, geknackt bekommen? Unwahrscheinlich, zumal sie bloß 48 Stunden Zeit haben, um ihm ganze 200 Seiten Fragen zu stellen, wie der "Korea Herald" berichtet. Danach muss ein neuer Haftbefehl her. Seine aktuelle Kooperation will Yoon freilich nicht falsch verstanden wissen. Er bleibt dabei: Er habe nichts falsch, sondern nur seinen Job gemacht. Die Mehrheit der Konservativen, inklusive Parteiführung, sehen das genauso. Der Haftbefehl sei "illegal", ein Instrument der Linken.
Wer hat seitdem das Sagen in Südkorea?
Gute Frage. Das Kabinett ist ja sichtlich ausgedünnt. Die Minister für Verteidigung und Justiz sowie der Regierungschef sind wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung an, wie man es auch immer nennen will, suspendiert.
Aber seit dem 27. Dezember kehrte zumindest so etwas Ähnliches wie Ordnung ein – in Form von Ex-Finanzminister und Ex-Yoon-Loyalisten Choi Sang-mok, der interimsmäßig den Posten des Premiers und die Aufgaben des Präsidenten übernimmt.
Zwar ist der weder in der eigenen, noch in den anderen Parteien besonders angesehen. Ein Weilchen wird's aber reichen. Noch im Frühjahr könnte das Verfassungsgericht Yoon des Amtes entheben und Neuwahlen binnen zwei Monaten ansetzen.
Wie geht es weiter?
Dass sich die Lage mit Yoons Verhaftung beruhigt, ist keineswegs sicher. Denn die Südkoreaner reagieren sehr allergisch auf politische Alleingänge – zu frisch sind die Erinnerungen an das Ende der Militärdiktatur Ende der 80er. Die südkoreanische Demokratie hat definitiv einige Wunden zu lecken. Wie tief die sind, das wird sich erst noch zeigen.
Die Spaltung der koreanischen Gesellschaft findet jedenfalls nicht mehr allein zwischen Nord und Süd statt. Dass Yoon-Anhänger – angestachelt durch ultrarechte Influencer – sich nun die Maga-Meute aus den USA zum Vorbild nehmen und das trumpsche Märchen von vermeintlich gestohlenen Wahlen lautstark adaptieren, lässt nichts Gutes ahnen.
Quellen: AP; "New York Times"; "Washington Post"; "Korea Times"; "Korea Herald"; "Korea JoongAng Daily"; "Tagesschau".