Für ihre Darbietungen bei dieser EM bekam das englische Nationalteam von allen Seiten Kritik und Spott. Doch vor dem Halbfinale wandelt sich das Stimmungsklima – vor allem gegenüber dem Trainer. Nein, vergnügungssteuerpflichtig war es beileibe nicht, was die englische Nationalmannschaft in ihren fünf Partien bei dieser EM bislang darbot. Der teuerste Kader des gesamten Turniers schoss kaum Tore, verweigerte förmlich das Offensivspiel, bot Fußball zum Abgewöhnen. Dennoch steht England im Halbfinale , trifft am Mittwochabend in Dortmund auf die Niederlande (21 Uhr im t-online-Liveticker). Der Weg dorthin war zäh und stand bereits mehrfach vor dem Ende. Im Achtelfinale gegen die tapfer kämpfenden Slowaken etwa, gegen die nur ein Geniestreich von Jude Bellingham in buchstäblich letzter Sekunde die "Three Lions" vor der Blamage bewahrte. Oder zuletzt im Elfmeterschießen – wahrlich nicht Englands Spezialdisziplin bei großen Turnieren – gegen die Schweiz. England mogelte sich durch – irgendwie. Mit jedem schwachen Auftritt boten sie erneuten Anlass zum Spott für Fans, Experten, Medien. Doch es blieb nicht bei verbalen Unmutsbekundungen. Was sie von den Auftritten hielten, drückten einige Anhänger noch etwas "deutlicher" aus, indem sie Bierbecher nach Southgate warfen. Trainer in der Kritik? "Er ist genau das, was wir brauchen" Nach dem Viertelfinalsieg gegen die Schweiz machte der Gescholtene seinem Frust Luft: "Das ist ein Job, bei dem man lächerlich gemacht wird und seine beruflichen Fähigkeiten infrage gestellt werden", sagte Southgate in Düsseldorf. Und weiter: "Ich glaube auch nicht, dass es normal ist, mit Bier beworfen zu werden." Die hoch veranlagten Spieler, die viele Experten von Southgate falsch angeleitet sehen, stellen sich geschlossen und demonstrativ hinter ihren Trainer. "Wir Spieler lieben ihn. Er ist genau das, was wir brauchen. Er ermöglicht uns, auf dem Feld unser Bestes zu zeigen", sagte Linksverteidiger Luke Shaw über Southgate. Kapitän Harry Kane vom FC Bayern , ein Schatten seiner Bundesliga-Saison, erklärte: "Wir sind im Halbfinale, also machen wir es wohl recht gut. Wir haben wirklich diesen Glauben, dass wir etwas Besonderes schaffen können." Und dieser Glaube wächst plötzlich auch außerhalb des Teams. Das Klima wandelt sich allmählich, speziell im nicht gerade zimperlichen Boulevard auf der Insel und auch bei den Anhängern. Vielen ist es mittlerweile egal, wie England das Halbfinale erreicht hat. Es zählt einfach nur, dass sie es erreicht haben. Schließlich sind die Erfolge, seit Southgate für das Team verantwortlich ist, auf dem Papier nicht wegzudiskutieren. Auch wenn sie nicht in Titeln mündeten, noch nicht: Halbfinale bei der WM 2018, Endspielteilnahme bei der EM 2021 und nun erneut der Einzug unter die letzten Vier. Bei drei der letzten vier Großereignisse hat der Ex-Nationalspieler die stolze Fußballnation also mindestens ins Halbfinale geführt. Dazu ein Viertelfinale bei der WM 2022. Eine solche Konstanz sucht man in der Geschichte der englischen Nationalmannschaft vergeblich. "Das sind nationale Ereignisse" Denn: Das sind jetzt schon mehr Halbfinalteilnahmen als in den letzten 50 Jahren zusammen, rechnet die englische "Daily Mail" vor und ruft gleichzeitig unter dem Slogan "Wir unterstützen England" dazu auf, dem Trainer endlich den Rücken zu stärken. Trotz allem, was vorher war. Ein minimalistisches 1:0 gegen Serbien zum Auftakt hin oder ein gänzlich trostloses 0:0 gegen Slowenien zum Abschluss der Gruppenphase her. Das, was Southgate mit seiner milliardenschweren Mannschaft gerade anstellt, lässt sich wohl unter dem Motto "Nicht schön, aber selten", treffend zusammenfassen. Ab 21 Uhr werden ihm wieder Millionen Briten auf die Finger und seinen Spielern auf die Füße schauen. Aufgrund des Erfolges nun vermutlich etwas wohlwollender. "Das sind keine normalen Fußballspiele. Das sind nationale Ereignisse" – wer wüsste das besser als Southgate. Nicht auszudenken, was passiert, wenn er sein Team nun auch noch dazu bringt, zu begeistern und das in ihm schlummernde Potenzial auszuschöpfen. Man wird ihn womöglich wieder mit Bier übergießen wollen. Dann aber nicht mehr aus Verachtung, sondern aus purer Freude.