Der Rücktritt von SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert hat die Kanzlerpartei überrumpelt. Ein Politiktalent und leidenschaftlicher Sozialdemokrat wirft hin. Und jetzt? Eigentlich stand der Tag im Zeichen eines ganz anderen Ereignisses: Vor einem Jahr überfielen Hamas-Terroristen Israel , zahlreiche Gedenkveranstaltungen erinnern heute an den blutigen Jahrestag. Doch dann, um 13.36 Uhr, ertönte aus dem Willy-Brandt-Haus ein Knall. Ausgelöst hatte ihn Kevin Kühnert, der Generalsekretär der Sozialdemokraten, mit einem Instagram-Post und einer parallel verschickten E-Mail. In einer persönlichen Erklärung an Parteifreunde erklärte der 35-Jährige überraschend seinen Rücktritt, aus gesundheitlichen Gründen: "Ich selbst kann im Moment nicht über mich hinauswachsen, weil ich leider nicht gesund bin", schreibt er. "Die Energie, die für mein Amt und einen Wahlkampf nötig ist, brauche ich auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden. Deshalb ziehe ich die Konsequenzen." Parteifreunde überrumpelt Viele in der SPD traf Kühnerts Rücktrittsschreiben wie ein Schock. "Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass Kevin krank ist", sagt ein Genosse t-online. Andere baten um Nachsicht und darum, die Entscheidung erst mal verdauen zu wollen. Tatsächlich wussten nach Informationen von t-online nur wenige Menschen Bescheid, dass der Parteimanager an einer mentalen Erkrankung leidet. Noch weniger Eingeweihte sollen wissen, worum es sich genau handelt. Kühnert befindet sich bereits in ärztlicher Behandlung und ist derzeit krankgeschrieben. Entscheidung vor rund einer Woche gefallen Kühnert soll schon länger immer wieder über einen Rücktritt nachgedacht haben, die Entscheidung aber erst vor Kurzem final getroffen haben. Anvertraut hat er sich demnach vor allem SPD-Chef Lars Klingbeil. Vor rund einer Woche begann Kühnerts engster Kreis mit der Vorbereitung der Rücktrittsankündigung. Ob die Wahlniederlagen der vergangenen Monate eine Rolle gespielt haben, ist unklar. Klar ist hingegen: Nach der historischen Schlappe bei der Europawahl wurde innerhalb der SPD die Kritik am Generalsekretär lauter. Vor allem eine missglückte Social-Media-Kampagne, die an einen rassistischen Skandal in einem Sylter Club anknüpfte, wurde Kühnert direkt angelastet. Aber auch dessen Äußerungen über eine angebliche "Kontaktschande" in der Ampel irritierten viele Parteifreunde. Kritik an der Wahlkampagne, und damit auch indirekt an Wahlkampfmanager Kühnert, äußerte etwa auch SPD-Chef Lars Klingbeil öffentlich. "Es gibt einige Dinge im Wahlkampf, die mir nicht gepasst haben. Und die wir jetzt intern aufarbeiten werden", sagte Klingbeil im Nachgang. Neustart in der Parteizentrale? Im Willy-Brandt-Haus ist zu hören, dass Kühnert sich die kritischen Töne in der SPD durchaus zu Herzen genommen hat. "Kevin Kühnert ist Perfektionist", sagt einer, der länger mit ihm zusammengearbeitet hat. Doch Kühnert soll seine Entscheidung selbstbestimmt getroffen haben, "niemand hat ihn dazu gedrängt", heißt es in der Parteizentrale. Und doch: Haben die kritischen Stimmen Kühnerts Entscheidung am Ende womöglich doch beeinflusst oder beschleunigt? Unklar. Der Zeitpunkt jedenfalls lässt immerhin den Schluss zu, dass strategische Erwägungen eine Rolle gespielt haben könnten. Am 13. und 14. Oktober geht der Parteivorstand der SPD in Klausur, um die Schlachtaufstellung für die Bundestagswahl zu beraten. Es wird um Schwerpunkte, Strategien, Botschaften gehen – und um Leute, die sie transportieren können. Mit dem Rücktritt kurz vor den entscheidenden Sitzungsrunden gibt Kühnert seiner Parteispitze die Beinfreiheit und genügend Zeit, zumindest teilweise einen Neustart zu wagen. Die anderen Köpfe an der Parteispitze nämlich bleiben unverändert im Amt. Identifikationsfigur im linken Lager Besonders bitter für die SPD ist die Tatsache, dass Kevin Kühnert auch nicht mehr für den Bundestag kandidieren wird. Die offizielle Begründung ist hier ebenso Kühnerts Gesundheit: Die SPD in seinem Berliner Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg wolle demnächst ihren Kandidaten für die Bundestagswahl bestimmen, bis dahin werde Kühnert keinesfalls wieder genesen sein. Damit fällt Kühnert nicht nur als eines der prominentesten SPD-Gesichter aus, sondern ist für die nächsten vier Jahre voraussichtlich kein Teil der bundespolitischen Landschaft mehr. Vor allem für die Parteilinke war Kühnert ein wichtiger Draht in die Parteispitze. Der frühere Juso-Chef Kühnert trat in der Rolle des Generalsekretärs zwar deutlich gemäßigter auf als früher, war aber weiterhin eine wichtige Identifikationsfigur. Doch auch für die Gesamtpartei ist Kühnerts Weggang ein Verlust: Kühnert galt als politisches Ausnahmetalent, sorgte zudem für innerparteiliche Geschlossenheit in wackeligen Ampelzeiten. Kühnerts Nachfolger Den Verlust soll nun Matthias Miersch ausgleichen. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD soll Kühnerts Nachfolger werden und das Amt bis 2025 kommissarisch übernehmen. Das SPD-Präsidium hatte die Personalie am Montagabend einstimmig dem Parteivorstand vorgeschlagen, erfuhr t-online aus Parteikreisen. Miersch, der auch Co-Sprecher der Parlamentarischen Linken der SPD-Fraktion ist, kann als Zugeständnis an den linken Flügel gewertet werden, der nun mit Kühnert einen wichtigen Fürsprecher verliert. Auf Miersch warten große Herausforderungen: Er muss den Wahlkampf für die Bundestagswahl 2025 organisieren und nebenbei die Kanzlerpartei zusammenhalten. Die Zeit ist knapp: In einem Jahr wird ein neuer Bundestag gewählt.