Ob er den Tsunami in dieser Gewalt so kommen sah? Jedenfalls hat Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz zehn Tage hinter sich, deren Druck für hundert reichen. Anmerkungen zum Stresstest eines Mannes, der Kanzler werden möchte. Der härteste Arbeitstag, an den ich mich erinnern kann? Irgendwann im Herbst des Jahres 2018. Angela Merkel hatte den Parteivorsitz in der CDU niedergelegt. Am Ende auch eine Spätfolge ihrer Migrationspolitik von 2015/16. Ich saß meiner Erinnerung nach vormittags in einer anderthalbstündigen Sendung des Deutschlandfunks, in die diese Meldung platzte, musste dann das Blatt bei "Cicero" umschmeißen und den Onlinekanal bespielen. Dann folgte eine Phoenix-Runde und abends noch eine andere Talkshow . Gegen 23 Uhr bin ich mehr aus dem Studio getaumelt als gelaufen. Da sei hier nicht erzählt, um Mitleid zu heischen oder irgendwas anderes. Es soll nur sagen: Mich hat das schon an meine Grenzen geführt. Und ein Stück darüber hinaus. Aber es ist nichts gegen das, was Spitzenpolitiker in Extremsituationen auf sich nehmen. Der große "Spiegel"-Reporter Jürgen Leinemannn hat in seinem Klassiker "Höhenrausch" von diesem Leben in einem Grenzbereich geschrieben, den Joschka Fischer einmal mit der Todeszone auf dem Weg zu einem 8000er im Himalaja beschrieben hat. Auch hier: Es geht nicht um Mitleid. Nur um Beschreibung. Und darum, klarzumachen: Ganz nach oben schaffen es schon physisch und psychisch in der Politik nur besonders robuste Naturelle. Die sind tatsächlich aus einem besonderen Holz. Und dieses Kanzlerholz ist seltener als Mahagoni. Warum diese Vorrede? Deshalb: Was immer man inhaltlich, taktisch oder strategisch vom Migrationsmanöver des Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz halten mag: Diese Tage, vor allem der Freitag im Bundestag, haben gezeigt, dass er jedenfalls physisch und psychisch aus diesem Holze gemacht ist. Was war nicht alles auf ihn eingeprasselt bis zum denkwürdigen Freitag im Plenum. Zwei Drittel des bundesdeutschen Kommentariats stampften ihn für sein Vorgehen in Grund und Boden der Unmoral. Michel Friedman, der großen Geste nicht abhold, warf ihm mehrfach öffentlich und wortreich sein Parteibuch zu Füßen. Seine Intimfeindin Angela Merkel, in der Sache Mutter allen Schlamassels, schalt sein Vorgehen einen großen Fehler. Beide großen Kirchen exkommunizierten den Christenmenschen Merz in gewisser Weise und distanzierten sich maximal. Dann die Marathon-Schlacht im Bundestag mit Abstimmung und bis zuletzt offenem Ausgang. Alles hoch aufgeladen. Elektrisch. Ein Plenum am Rande des Kollapses. Hinterher noch zwei Interviews bei ARD und ZDF , beide scharf und gut geführt, aber von Merz auch konzentriert pariert. Am späten Abend ein dennoch so lässig wie möglich wirkender Auftritt bei einer Veranstaltung der CDU in Erfurt. Da liefen schon die Vorbereitungen für die Demos gegen ihn, die deutschlandweit weit mehr als 200.000 Menschen mit teilweise drastischen Schmähungen auf ihren Pappschildern auf die Straße trieben. Allein in Berlin füllten 160.000 Menschen die Straße des 17. Juni und zogen von dort zur CDU-Parteizentrale. Das muss man erst einmal stehen. Merz hat alles durchgestanden, ohne zu wackeln. Einmal glänzte er schweißnass im Gesicht vor den Kameras. Direkt nach der Abstimmung. Es war das einzige Mal, dass kurz zu sehen war, in welche persönlichen Grenzbereiche ihn die selbst ausgelösten Ereignisse führten. Alle Kanzler dieser Republik hatten dieses Stehvermögen ebenfalls. Jedenfalls jene, die ich erlebt habe. Namentlich Kohl, Schröder, Merkel, Scholz. Das ist eine Form von Selektion, die schon stattfindet, bevor diese Leute alle ins Kanzleramt gekommen sind. Merz hat insofern erstens in diesen Tagen eine Art inoffiziellen Gesundheitscheck durchlaufen, der bei amerikanischen Präsidenten obligatorisch ist. Zum zweiten hat er mit seinem Vorgehen etwas gezeigt, das es in der deutschen Politik vor 20 Jahren das letzte Mal gab: Dass sich ein Regierungschef, in dem Fall einer, der es werden möchte, in den Wind des absehbaren Widerstands stellt, weil er die Sache für so wichtig hält. Gerhard Schröder hat das zuletzt getan mit seiner Agenda 2010. Allerdings erst, nachdem er im Bundestag zum zweiten Mal zum Kanzler gewählt worden war. Und zur Wahrheit gehört auch, dass ihn das, gepaart mit seiner Impulsivität (er hätte einfach zuwarten sollen bis zum regulären Wahltermin), am Ende das Amt gekostet hat. Die zwei Seiten des Impulsiven Das Impulsive ist auch Merz zu eigen. Es beschert ihm immer wieder Probleme. Aber es verschafft ihm zugleich eine Authentizität, die auch Gerhard Schröder umflort hat. Wenn es gut geht, dann heißt das negativ besetzte Impulsive plötzlich "Bauch" und ist was Tolles. Merz hat in der Migration aus dem Bauch heraus den Verfechtern einer weiter liberalen bis Laissez-faire-Politik jenes "Basta!" entgegengeschleudert, das Schröder den Gewerkschaftern zur Agenda 2010 vom Rednerpult aus zurief. Wir haben uns nach 16 Jahren Merkel und drei Jahren Scholz an einen anderen Stil gewöhnt. Kann sein, dass sich Merz das Leben unnötig schwer gemacht hat. Nicht zuletzt mit Blick auf die Koalitionsfindung. Es muss aber nicht nur schlecht sein, wenn nach Jahren des Sedativen etwas mehr Schröder in Merz aufersteht.