Angela Merkel galt als "Teflon-Kanzlerin", Olaf Scholz als eine Art "Roboter" – Regierende zeigen in Deutschland wenig Emotionen. Politikberater Johannes Hillje fordert: Das muss sich ändern. Wut, Angst, Hoffnung – die AfD weckt bei den Menschen Gefühle wie keine andere Partei, damit sind die Rechtsaußen erfolgreich. So erfolgreich, dass sie in dieser Woche in einer Umfrage erstmals die Union als stärkste Kraft in Deutschland ablöste . Politikberater Johannes Hillje beobachtet die Partei seit Jahren eng. Er fordert in seinem neuen Buch "Mehr Emotionen wagen": Die anderen Parteien müssten nachziehen. Die Nüchternheit vergangener Kanzler sei überholt, es brauche eine "demokratische Gegenemotionalisierung" in der deutschen Politik, so Hillje. Wie aber kann das gelingen, ohne Populismus zu befeuern? t-online: Herr Hillje, Ihr Buch eröffnet mit einer für manche wohl noch immer überraschenden Feststellung: Die AfD sei nicht nur Wutpartei, sondern auch eine sexy Gute-Laune-Partei. Ein Anker für positive, nicht nur negative Identifizierungen. Was bringt Sie zu dem Schluss? Johannes Hillje: Die AfD ist für ihre Anhänger Hoffnungsträgerin, viel stärker, als das für andere Parteien und deren Wähler gilt. Das zeigen Erhebungen. Sie erzeugt und verstärkt nicht nur Angst und Wut. Sie bietet ihren Anhängern gleichzeitig einen positiven Gefühlsausgleich, was ein menschliches Bedürfnis ist. Das gelingt ihr, indem sie einen dramaturgischen Bogen spannt – vom Niedergang des Landes im Heute hin zur Erlösung der eigenen Kultur im Morgen. Im Ost-Wahlkampf feierte die AfD mit ihren extremsten Landesverbänden reihenweise "Familienfeste". Hat die Partei ihre Strategie geändert, die positive Erzählung verstärkt? Die Volksfest-Strategie haben wir in diesem Ausmaß zum ersten Mal in Ostdeutschland im vergangenen Jahr gesehen. Die Bundespartei hat diese Strategie im Bundestagswahlkampf übernommen, soweit das im Winter und in Hallen möglich war. Zum Beispiel der Wahlkampfauftakt: Da hat die AfD im Grunde eine Party in der imaginierten Apokalypse gefeiert. Da wurde getanzt und gesungen, zwischen den Untergangsreden rief Alice Weidel noch: "Ich liebe euch" in den Saal. Wir erleben eine Eventisierung von Politik auf der einen Seite – und zugleich eine neue Allianz von Demagogie und Technologie auf der anderen. Was meinen Sie mit der "Allianz aus Demagogie und Technologie" genau? Dieser Feel-Good-Extremismus, den wir bei AfD-Veranstaltungen sehen, findet auch im Netz statt – durch die Bilder, Videos und Songs, die die AfD mit Künstlicher Intelligenz (KI) erstellt. Das ist eine Ästhetisierung, Modernisierung und eben auch zusätzliche Emotionalisierung des Rechtsradikalismus, weil er in diesen Formaten alle Sinne ansprechen kann. Und die AfD hat bei der KI einen Vorteil auf ihrer Seite: Die Partei hat ein klares Zukunftsbild, das auf der Vergangenheit beruht. Das Vergangene ist eine strukturelle Gemeinschaft mit generativer KI, die ihre Bilder auf Basis eines großen Datenarchivs erstellt. Sie kann bereits Dagewesenes besser darstellen als völlig neue Zukunftsentwürfe. Deutschland wurde jetzt jahrelang von einem Kanzler regiert, den Journalisten immer wieder als "Roboter", "Scholzomaten" oder "Sprechautomaten" bezeichnet haben. Frei von jeder Emotionalität also. Wie ausschlaggebend war das für sein Scheitern? Olaf Scholz hat nie zugelassen, dass die Menschen eine positive Beziehung zu ihm aufbauen können. Es spielt aber eine große Rolle, dass man den Menschen, der das Land regiert, auch persönlich einschätzen und sich positiv identifizieren kann. Scholz hat seinen Stil selbst einmal "Charisma des Realismus" genannt. Ich aber würde es eher regierende Regungslosigkeit nennen. Da wusste niemand so genau, woran man war, wohin er das Land mit seiner Politik bringen will. Neu ist das aber nicht in der Bundesrepublik. Warum? Ähnliche Regierungsstile gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in Serie – auch als Lehre aus dem Emotionsmissbrauch durch die Nazis. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss brachte es auf die Formel "Pathos der Nüchternheit", Helmut Schmidt sprach von der "nüchternen Leidenschaft". Das ist nicht mehr zeitgemäß, in Anbetracht der heutigen Emotionsdominanz der Radikalen. Es braucht eine demokratische Gegenemotionalisierung in der deutschen Politik. "Pathos der Nüchternheit", "nüchterne Leidenschaft", "Charisma des Realismus" – das sind Widersprüche in sich, mit denen die deutsche Politik ihren Stil beschreibt. Ist das schon ein Eingeständnis, dass es ohne Emotionen gar nicht geht? Politik löst immer Emotionen bei den Bürgern aus. Das menschliche Denken ist ohne Emotionalität überhaupt nicht funktionsfähig. Seit der Aufklärung werden Rationalität und Emotionalität oft als Gegner gesehen, als stünden sie in Dualität. Viel eher aber sind sie ein Duett: Sie ergänzen sich, sie brauchen sich. Es ist ein Teamwork. Das ist durch die Neurowissenschaft heute erwiesen. Was erwarten Sie für einen Regierungsstil von dem kommenden Kanzler Friedrich Merz in Sachen Emotion? Friedrich Merz setzt sich von seinem Vorgänger ab, immer wieder reagiert er impulsiv. Aber Impulsivität ist eher ein spontanes, unreflektiertes Handeln. Nicht zu verwechseln mit Emotionen, die bei den Bürgerinnen und Bürgern bewusst angesprochen werden. Wie bewerten Sie es, als er nach dem Attentat von Aschaffenburg und kurz vor der Wahl sagte: Jetzt schaue ich weder rechts noch links, die Menschen wollen Änderungen – und einen symbolischen Fünf-Punkte-Plan zur Migration mit Stimmen der AfD verabschiedet hat. Da wirkte er emotional. Merz hat manches richtig gemacht in dieser Situation. Er wollte Tatendrang und Handlungsfähigkeit ausstrahlen. Damit hat er ein Gefühl getroffen bei vielen Menschen. Alle wünschten sich schließlich ein Ende der schrecklichen Anschläge. Dann aber hat er in der Kommunikation einiges falsch gemacht, in dem Moment, als er nicht mehr vom Sprechzettel abgelesen hat. Zum Beispiel? Er hat auf Nachfrage von Journalisten gesagt, dass bei dem Thema nun keine Kompromisse mehr für ihn möglich seien. Das war ein Fehler. Dieser Satz steht im Widerspruch zur notwendigen Kompromisskultur in unserem Mehrparteiensystem. Das zeigt sich jetzt ja auch in den Koalitionsverhandlungen: Da setzt die SPD ihre Akzente ebenso wie die CDU . Ohne Kompromisse kann keine Koalitionsregierung funktionieren. Sie plädieren für eine "neue Kultur der demokratischen Emotionalisierung". Wie kann die aussehen? Die demokratische Emotionalisierung definiert sich ex negativo aus der undemokratischen Emotionalisierung – also, indem sie Wesensmerkmale ihrer dunklen Schwester vermeidet. Denn die bewusste emotionale Aufladung von Themen und Forderungen kann die Grenzen des demokratischen Diskurses überschreiten. Was gilt es zum Beispiel zu vermeiden? Erstens: eine Dehumanisierung, wie es AfD-Politiker tun, wenn sie Migranten als Parasiten, Viecher oder Monster bezeichnen. Zweitens die Markierung von Mitbewerbern oder anderen Playern in der Gesellschaft nicht als Mitbewerber, meinetwegen auch Gegner, sondern als Feinde. Drittens die Wahrheitsmonopolisierung des eigenen Standpunkts – also die Behauptung: Ich habe die Wahrheit gepachtet, alle anderen lügen euch an. Und viertens die Verächtlichmachung demokratischer Institutionen, wie wir es auch bei der AfD mit Blick auf die Gerichte beobachten können. Das wären dann die Spielregeln. Was sind Tipps, wie demokratische Emotionalisierung tatsächlich erfolgreich sein kann? Politiker sollten die Verwirklichung oder Verletzung zentraler Werte thematisieren, zum Beispiel soziale Gerechtigkeit oder Sicherheit. Eine besondere Verbindung haben Menschen, wenn es um Werte oder Themen geht, die ihre Lebenswelt und Gewohnheiten betreffen. Der Klimaschutz ist ein Beispiel, bei der Mobilität, bei der Ernährung, beim Heizen. Und, das halte ich in Zeiten eines mindestens gefühlten Kontrollverlustes, den Populisten verstärken, wichtig: Demokraten sollten vermitteln, dass sie Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit stärken – die Menschen also die Chance haben, ihr Schicksal selbst zu steuern und zu gestalten. Haben Sie konkrete Beispiele aus dem zurückliegenden Wahlkampf, bei denen Sie denken: Da ist demokratische Emotionalisierung gelungen? Der Ansatz von Friedrich Merz war interessant, mit der Emotion "Stolz" Wahlkampf zu machen – in einer Zeit, wo viele Menschen verunsichert und frustriert sind. Merz plakatierte den Satz "Für ein Land, auf das wir wieder stolz sein können". Dann aber fehlte komplett die Unterfütterung der Stolz-Erzählung, das konkrete politische Angebot dazu, und das Momentum verpuffte. Am besten ist es Heidi Reichinnek von der Linken gelungen, in diesem Wahlkampf zu emotionalisieren – nicht in der Breite der Gesellschaft allerdings, sondern in einem bestimmten Milieu: Reichinnek hat junge, urbane Frauen stark mobilisiert. Wie hat sie das geschafft? Sie hat mit dem Protest gegen Friedrich Merz und der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD gepunktet. Aber ihre reichweitenstarken Videos auf TikTok zeigen: Ihr ist auch gelungen, das eigene programmatische Angebot emotional aufzuladen. Zum Beispiel beim Thema Mieten oder Energiekosten. Davon können andere Parteien wie die SPD oder die Grünen durchaus lernen. Sie wünschen sich eine emotionale Folgenabschätzung für Gesetze. Hätte es das Heizungsgesetz dann zum Beispiel nie gegeben? Hätte man eine emotionale Folgenabschätzung für dieses Gesetz vorgenommen, dann hätte man es anders konzipiert. Die Emotion, die entstanden ist, als der Entwurf des Gesetzes durchgestochen wurde, ist ein Verlustgefühl: der drohende Verlust von Eigentum, von Wärme, von Wohlstand. Die Lehre: Eine solche Forderung zum klimaneutralen Umbau im Privaten muss immer sofort begleitet werden von einem Angebot der Förderung. Menschen wollen sich abgesichert fühlen. Sie haben im Wahlkampf Robert Habeck beraten. Er führte einen sehr menschelnden Wahlkampf, inklusive Gesprächen am Küchentisch von Wählern und Raum für Emotionen. Am Ende haben die Grünen drei Prozentpunkte verloren. Warum hat dieser Ansatz nicht funktioniert? Die Küchentisch-Gespräche waren nicht das Problem. Ich glaube, dass der Wahlkampf am Ende an einer einseitigen Positivität gescheitert ist. Die Emotionsstrategie war, dass man "Zuversicht" nach vorne gestellt hat, ohne zunächst die gegenwärtigen Sorgen aufzunehmen. Bei der eigenen Klientel hat das funktioniert, aber nicht darüber hinaus. Das kam auch in Habecks Reden zu kurz. Für die Mehrheit hätte er eine Brücke von den Sorgen im Heute zu einer neuen Hoffnung im Morgen bauen müssen.