Nations League: Als wäre die EM nie abgepfiffen worden: DFB-Team spielt sich in einen Rausch
Gescheitert im Viertelfinale? Zurück in der Nations League kann Julian Nagelsmann das noch immer nicht akzeptieren und lässt beim 5:0 gegen Ungarn feinsten Turnierfußball spielen.
Wer Julian Nagelsmann in der zurückliegenden Woche erlebte in Herzogenaurach, der spürte, dass er noch nicht abgeschlossen hat mit der Europameisterschaft. Es durfte einfach nicht sein, dieses 1:2 gegen Spanien in der Nachspielzeit, 119. Minute, Kopfball Mikel Merino, links oben in den Winkel. Und dann die Schockstille im Stadion von Stuttgart-Bad Cannstatt.
Entsetzlich.
Nein, ein solch plötzlicher Tod war nicht zu akzeptieren, und deshalb rief der Bundestrainer seine Mannschaft in diesen Septembertagen nochmals im Home Ground zusammen, in diesem Appartementdorf in Mittelfranken, das als Basislager während des Turniers gedient hatte. Nagelsmann wollte dort weitermachen, wo er Mitte Juli hatte aufhören müssen. Wenn schon am Spanien-Spiel nichts mehr zu drehen war nachträglich, dann sollte doch zumindest der Geist von Herzogenaurach wieder zum Leben erweckt werden. Jenes Miteinander, das die Deutschen bis Viertelfinale getragen hatte.
Auftritt des Künstlerduos Musiala und Wirtz
Ein kühner Plan, ein wenig esoterisch im Ansatz, aber er funktioniert, wie man seit Samstagabend weiß. Beim 5:0 in der Nations League-Partie gegen Ungarn spielte die deutsche Nationalmannschaft, als sei die EM nie abgepfiffen worden. Es war ein rauschhafter Sieg, eine ziemlich naturgetreue Nachbildung des 5:1-Triumphs über Schottland im EM-Eröffnungsspiel.
Sogar die Helden waren dieselben. In München traten damals im Juni die beiden Zauberkünstler Jamal Musiala und Florian Wirtz erstmals gemeinsam auf, was ihnen noch am selben Abend den schrecklichen Namen "Wusiala" einbrachte. Auch in Düsseldorf tricksten und schniggsten sie wieder; der Ball gehorchte ihnen wie ein dressiertes Hündchen. Es war herrlich anzusehen, und das Publikum nahm die Einladung gern an, eine Zeitreise in selige EM-Zeiten zu unternehmen. Düsseldorf trank, sang und schunkelte, als hätten die Deutschen jetzt doch noch einen Titel gewonnen.
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Euphorie dimmen bei der Nations League? Aussichtslos
Womöglich war Julian Nagelsmann die Ekstase in der Karnevalsstadt etwas suspekt, jedenfalls begann er nach dem Spiel sein Statement mit Kritik: Die ersten zehn Minuten zu lasch aufgetreten, zu viele Flüchtigkeitsfehler begangen, zu wenig aus den Chancen gemacht. Es klang wie der falsche Text zu den Hochglanzbildern, die seine Mannschaft produziert hatte gegen Ungarn.
Nagelsmanns Versuch, die Stimmung etwas herunterzudimmen, lief ins Leere. So wurde er in der Pressekonferenz tatsächlich gefragt, ob Deutschland nun zu den Favoriten auf die WM 2026 zähle. Nagelsmann ist ein viel zu höflicher Mensch für eine Antwort wie diese: Leute, beruhigt euch, es war bloß Ungarn, das wir geschlagen haben – nicht Spanien, Brasilien oder Argentinien.
Solch ein Satz verbietet sich natürlich, er hätte den Gegner brüskiert, sowas kann man zwar hinterm Bretterzaun im Home Ground sagen, aber nicht ins offene Mikrofon.
Ungarn war kein ebenbürtiger Gegner
Gleichwohl wäre eine Einordnung angebracht gewesen. Ungarn, das schon bei der EM enttäuschte (und dort unter anderem 0:2 gegen Deutschland verloren hatte), war am Samstagabend kein ebenbürtiger Gegner. In der zweiten Halbzeit, als die Deutschen das Spiel an sich rissen, hatten manche Abwehraktionen der Ungarn etwas Slapstickhaftes. Selbst für Fouls schienen die Spieler von Trainer Marco Rossi zu langsam, einige ihrer eingesprungenen Grätschen gegen Musila, Havertz und Wirtz landeten im Nichts. Eine einzige Verwarnung (Gelb gegen Loic Nego) handelten sie sich ein; für mehr Kampf und Karten waren sie zu müde.
Auch wenn der Gegner schwach war, lieferte das Spiel doch einen wichtigen Erkenntnisgewinn: Die deutsche Nationalmannschaft weiß jetzt, dass es auch ohne die Alten geht.
Manuel Neuer, 38, Toni Kroos, 34, Thomas Müller, 34, und İlkay Gündoğan, 33, waren nach der EM zurückgetreten. Kroos und Gündoğan hatten eine starke EM gespielt – vor allem Kroos auf der Position sechs vor der Abwehr. Nahezu jeder Angriff wurde von ihm eingeleitet, und vorn, hinter den Spitzen, übernahm dann Gündoğan die Organisation.
Gegen Ungarn wurden diese Aufgaben per Jobsharing erledigt. Pascal Groß, Nachfolger von Kroos, verteilte im defensiven Mittelfeld mit großer Ruhe die Bälle und wurde immer von den Innenverteidigern Jonathan Tah und Nico Schlotterbeck entlastet.
Verwirrspiel in der Offensive
In der Offensive zettelten die Deutschen ein wahres Verwirrspiel an. Wer war dort eigentlich die Zehn, der Spielmacher? Schwer zu sagen. Mal Wirtz, mal Havertz, mal Musiala, mal der weit aufgerückte Groß. Es änderte sich nahezu minütlich – sehr zum Verdruss der Ungarn, die gar nicht wussten, wo ihnen der Kopf steht.
Das Offensivspiel war ein kleines Meisterwerk, wenn man bedenkt, dass Nagelsmann nur vier Trainingstage in Herzogenaurach hatte, um es einzustudieren.
Schon bald wird sich zeigen, wie erschütterbar dieses filigrane Spiel ist. Am Dienstag tritt das DFB-Team in Amsterdam gegen die Niederlande an, eine der besten und robustesten Mannschaften des Kontinents. Und zudem eine, die der deutschen verwandt ist in ihrer Chamäleonhaftigkeit. Nagelsmann hatte die Niederländer schon während der EM beobachtet und festgestellt, dass auch sie ständig ihre Grundordnung wechseln im Spiel.
Zwei Mannschaften, eine ähnliche Spielidee und nur noch eine einzige Trainingseinheit für die Deutschen. Womöglich wird der Geist von Herzogenaurach helfen müssen in Amsterdam.