Heidelberg: "Es ist gut, wenn jeder mal aus seiner Komfortzone rauskommt"
Von Sebastian Riemer
Heidelberg. November 1989, ein Neunjähriger sitzt in Ziegelhausen vor dem Fernseher. Die Mauer ist offen, die Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR hat von einem auf den anderen Tag ihren Schrecken verloren. Der Junge heißt Alexander Föhr. Heute sagt er über diesen Moment: "Die Bilder aus Berlin haben mich tief beeindruckt. Ich weiß noch, wie ich dachte: Dieser Strich, der auf der Deutschlandkarte in der Tagesschau immer das Land trennte, machen sie den jetzt weg?" Es ist seine erste bewusste politische Erfahrung. Sie wird seinen Lebensweg prägen. Denn der Mann, der kräftig mithalf, den Strich auf der Karte tatsächlich zu entfernen, hieß Helmut Kohl, war Bundeskanzler – und CDU-Vorsitzender.
Drei Jahrzehnte später: Zum Spaziergang mit der RNZ hat CDU-Bundestagskandidat Alexander Föhr – blaue Hose, blaues Hemd, breites Lächeln – zum "Kanzlerblick" geladen: Diesen Ort oberhalb von Stift Neuburg kennt jeder Ziegelhäuser, denn Helmut Kohl liebte die Aussicht, die man hier den Neckar entlang bis in die Rheinebene hat. "Kohl fand ich als Kind sofort sympathisch – und bei der Wahl 1994 war ich dann totaler Fan", erzählt Föhr. 1997 trat er der Jungen Union bei, zwei Jahre später, mit 19, der CDU.
Der Kanzlerblick ist einer der vielen Lieblingsorte Föhrs hier im Stadtteil. "Ich bin ein echter Ziegelhäuser Bu", sagt er. Hier lebt der 41-Jährige mit seiner Familie, hier ist er geboren und aufgewachsen und hier hat er seinen Freundeskreis aus Schulzeiten – darunter sein Trauzeuge, Adrian Rehberger, ein SPDler.
Als Föhr 2014 erstmals in den Gemeinderat gewählt wurde, kam ein Fünftel seiner Stimmen von Ziegelhäusern. "Die Leute sind toll und die Landschaft und die Natur einfach so schön", schwärmt er. Föhr kennt hier im Wald jeden Baum, es ist seine Joggingstrecke, für die er bis zu zwei Stunden braucht. "Laufen gehe ich zu 50 Prozent für den Geist, um das Hirn mal durchzupusten." Doch seit über drei Monaten war er nicht mehr joggen. "Zeit ist bei mir ein knappes Gut gerade", sagt er und lacht.
Föhr ist ein viel beschäftigter Mann. Stadtrat, CDU-Kreisvorsitzender, Vater von Julius (2) und Marie (12), Ehemann von Patricia, Kommunikationschef der AOK Rhein-Neckar-Odenwald – und jetzt der zeitaufwendige Wahlkampf. "Ich muss den Wahlkreis direkt gewinnen", sagt er. Zwar steht Föhr auf Platz 6 der Landesliste, doch wird die CDU im Ländle wahrscheinlich wieder so viele Direktmandate holen, dass über die Liste keiner zum Zug kommt. Daher ist Föhr seit Monaten auf den Marktplätzen von Laudenbach bis Heidelberg und von Ilvesheim bis Schriesheim unterwegs. Föhr muss lachen, ihm fällt eine Anekdote von Ende März ein: "In Ladenburg kam ein Mann an den Wahlstand und sagte: ,Sind Sie net zu spät?’ Er dachte, ich wäre Landtagskandidat – und hätte die Wahl verschlafen!"
Föhr mag das spontane Gespräch mit den Leuten, aber er taucht auch tiefer ein: So hat er in diesen Wochen 20 Ein-Tages-Praktika gemacht. Ob beim Landwirt, in der Schule, beim Metzger, im Pflegeheim oder im Restaurant: Föhr wollte die Betriebe in seinem Wahlkreis und die Herausforderungen, vor denen sie stehen, kennenlernen. "Ich habe so viel gelernt", sagt er, "es gibt so viele großartige Berufe."
Und dann sprudelt es aus ihm heraus. Man merkt: Das ist ihm wichtig jetzt. "Ich habe im Maria-von-Graimberg-Haus in Rohrbach Pflegerin Hanna bei einer Frühschicht begleitet. Und während sie bei einer Frau die Morgentoilette gemacht hat, sollte ich die Dame ansehen und ihre Hand halten. Das war nicht kompliziert, einfach ein bisschen Menschlichkeit. Doch dadurch wurde es für die Pflegerin und für die Bewohnerin viel einfacher." Föhr zieht daraus zwei Schlüsse: "Wir brauchen viel mehr Praktika – und vor allem eine Art gesellschaftliches Pflichtjahr. Es ist gut, wenn jeder mal aus seiner Komfortzone rauskommt. Und es stärkt den Zusammenhalt."
Seine Praktikumstour hat ihn noch mehr gelehrt: "Diese Idee, dass der Staat den Unternehmen vorschreibt, wie sie ihre Arbeit zu machen haben, ist absurd." Ob bei der Bezahlung, bei Corona-Schutzmaßnahmen oder der Vereinbarkeit von Familie und Beruf: "Die können das! Die brauchen niemanden, der ihnen erklärt, wie das geht." Die soziale Marktwirtschaft – Föhr: "Ich bin ein Riesenfan davon!" – werde durch zu viele Vorschriften ausgebremst, der Staat verderbe den Leuten die Lust, selbstständig zu sein.
"Ich bin in die Politik gegangen, weil ich Überzeugungen habe", sagt Föhr. Ganz Christdemokrat, nennt er klassische bürgerliche Werte als Richtschnur: "Dass man ehrlich ist, dass man sich anstrengen muss – das hat mich mein Vater gelehrt." Föhrs Eltern haben sich Anfang der 70er-Jahre auf einer Prunksitzung der Ziegelhäuser Karnevalsgesellschaft kennengelernt – ausgerechnet. Denn seit zehn Jahren ist Alexander Föhr jetzt Sitzungspräsident der ZKG. Für den 41-Jährigen stärkt das Brauchtum, besonders der Karneval, den gesellschaftlichen Zusammenhalt. "Wo sonst haben wir das noch, dass Menschen aus verschiedenen Berufen und Schichten zusammenkommen?"
Überhaupt ist Föhr einer, der am liebsten "vor Ort" ist, der lieber direkt mit den Leuten redet, als die hundertste Mail zu schreiben. Sein großes Vorbild: sein Vorgänger als CDU-Abgeordneter im Wahlkreis, Karl A. Lamers. Er habe viel von ihm gelernt, nicht zuletzt, als Föhr während des Studiums (Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Geschichte in Mainz) in Lamers’ Wahlkreisbüro arbeitete. "Es geht oft um Kleinigkeiten, wo man schnell und unkompliziert helfen kann." Er zitiert Manfred Rommel, lange Oberbürgermeister von Stuttgart: "Des Bürgermeisters täglich Brot ist und bleibt der Hundekot." Das gelte auch für Bundestagsabgeordnete. Föhr, der von 2008 bis 2012 auch vier Jahre lang im OB-Referat von Eckart Würzner arbeitete, will "Botschafter, Brückenbauer und Kümmerer" für seinen Wahlkreis sein.
Doch Föhr will auch in Berlin etwas bewegen. Die Expertise aus seinem AOK-Job würde er gerne im Gesundheitsausschuss einbringen. "Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt – aber auch eines der teuersten." Das will er ändern. Gesundheit müsse weniger systemisch, und mehr von Patienten und Mitarbeitern her gedacht werden. Bei diesem Thema kennt er sich aus, sprudelt vor Ideen – und Wissen. Und da kritisiert er dann auch mal den CDU-Gesundheitsminister. Jens Spahn habe zwar "unglaublich ambitioniert vieles angepackt", jedoch dabei manchmal "die Langfristigkeit aus den Augen verloren".
Alexander Föhr ist einer, der viel lacht, gerne scherzt, und fast immer gute Laune hat. Dabei kennt er Brüche im Leben und Schicksalsschläge. Seine erste Ehe ging auseinander. Stark geprägt hat ihn der frühe Tod seiner Mutter. Sie starb an Krebs, kurz bevor er Abitur machte. "Es ist traurig, dass sie meine Kinder nicht kennengelernt hat, und auch, dass ich den aufregenden Wahlkampf nicht mit ihr teilen kann", sagt Föhr nachdenklich. Und dann nimmt der Ziegelhäuser Bu strammen Schrittes die nächste Steigung.