Bundestagswahl | Wenn Linke träumen könnten
Sollte auf dem linken Flügel der SPD jemand zum Träumen neigen, dann sähe das etwa folgendermaßen aus: Eines schönen Tages erscheinen Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler an der Pforte des Willy-Brandt-Hauses, in der Hand einen verschlossenen Umschlag. Was kann ich für Sie tun?, fragt der Pförtner, und die beiden Linken-Vorsitzenden murmeln gesenkten Hauptes: Wir haben ein Bekenntnis zur NATO mitgebracht. Aha, antwortet der Pförtner, dann legen Sie es doch einfach hier ab.
In diesem Moment öffnet sich die Tür, im Gegenlicht erscheint Olaf Scholz und ruft den beiden schon von Weitem zu, was er immer ruft: Respekt! Dann fallen sich alle drei in die Arme und hören von Stund’ an mit dem Sondieren nicht mehr auf. Eine linke Bundesregierung steht unmittelbar bevor, und auch Scholz ist erleichtert: Gerade hat Christian Lindner die Ampelkoalition platzen lassen, weil er von der SPD und den Grünen ein Bekenntnis zum Bund der Steuerzahler verlangte. Scholz fand gar nichts dabei, aber Saskia Esken wollte nicht. Nun also Rot-Grün-Rot.
So würd’s geträumt, nun jedoch sind sie wach auf dem linken Flügel der SPD, und sie stellen fest: So kann es ja gar nicht laufen! Denn alle wissen, dass die ohnehin erstaunliche Kompromissfähigkeit der Linken dann doch nicht ausreicht, um auf die Knie zu gehen und Bekenntnisse abzulegen. Und dass Kanzlerkandidat Scholz das „Bekenntnis“ auch genau deshalb verlangt. Wie soll er Rot-Grün-Rot denn sonst verhindern, wenn die Linken so gemein sind, ihm meilenweit entgegenzukommen? Und wenn sie dann hören, dass auch Saskia Esken das unsinnige Spiel mit dem „Bekenntnis“ spielt, schlafen sie am besten gleich wieder ein, auf dem linken Flügel der SPD.
So ist die Lage gut zwei Wochen vor einer Bundestagswahl, die eigentlich das Zeug zu einer Richtungsentscheidung hätte. Es ist nun nicht so, dass die Welt im Allgemeinen und das Klima im Besonderen gerettet wäre, wenn in Deutschland ein Mitte-links-Bündnis zustande käme. Die ökologisch-soziale Transformation, die wir brauchen, wird auch Rot-Grün-Rot ohne massiven Druck aus der Gesellschaft nicht bewerkstelligen (können). Aber ganz ohne Belang ist es auch wieder nicht, wer regiert.
Zumindest Räume für Veränderung könnte ein Reformbündnis öffnen, das sich in wenigstens einem wichtigen Punkt von CDU/CSU und FDP unterscheiden würde. Die Scheidelinie verläuft an der altbekannten, aber immer wieder neu zu bestimmenden Grenze: Hier die leider gewohnte Politik der Marktgläubigkeit nebst größtmöglicher Rücksicht auf Kapitalinteressen; dort eine Politik, die im Ansatz versteht, dass Transformation ohne Einhegung dieser Kapitalinteressen und entschiedene Regulierung nicht gelingen wird.
Die Angst vor „den Leuten“
Was auf der linken Seite dieser Grenze programmatisch geschieht, ist wahrlich noch nicht anti-kapitalistisch. Für eine Konfrontation mit dem Marktliberalismus der Ära Angela Merkel und ihres Nachfolge-Aspiranten Armin Laschet hätte es dennoch gereicht. Das aber fand viel zu wenig statt.
Die SPD, die schon lange mit einem Fuß auf der rechten Seite der beschriebenen Grenze steht, kann sich zumindest seit Gerhard Schröder nicht entscheiden. Und sie hat es vorgezogen, ihre Unentschiedenheit in der Arbeitsteilung zwischen dem reformlahmen Kanzlerkandidaten und der etwas linkeren Parteispitze zu personifizieren. Dass das Programm durchaus einen Hauch von Rot-Grün-Rot atmet, vom Festhalten an der Schuldenbremse einmal abgesehen, geht dabei fast unter.
Die Grünen werben zwar für „Aufbruch“ und haben auch programmatisch einiges zu bieten. Aber auch sie haben es versäumt, sich im Streit um öffentliche Hegemonie klar auf die Seite eines linken Politikmodells zu stellen. Zu fixiert waren sie auf Rücksicht gegenüber einer möglichen Koalition mit der CDU/CSU.
Bei der Linken schließlich sind Hennig-Wellsow und Wissler womöglich zu spät gekommen. Die durch Corona bedingte Verzögerung hat sie wertvolle Zeit gekostet, um Brücken zu bauen über die innerparteilichen Gräben. Vor allem das absurde Entweder-oder zwischen Freiheitsrechten für alle („Identitätspolitik“) und Umverteilung hat dadurch viel zu lange angehalten. Die Partei als eine linke Kraft erkennbar zu machen, die diesen Scheinwiderspruch produktiv auflöst, konnte (noch) nicht gelingen. Auch hier: Die guten Ansätze im Programm gehen fast unter.
Es kommt, zumindest bei SPD und Grünen, ein weiterer Punkt hinzu: die Angst vor „den Leuten“. Es mag schon stimmen, dass eine von Merkels demobilisierendem Gestus sedierte Gesellschaft mehrheitlich zögert, wenn es um einschneidende Veränderungen geht. Aber gilt das nicht besonders dann, wenn es im politischen Raum an positiven Bildern, gerne auch Visionen für diese Veränderung fehlt? Hätte es geholfen, wenn die Grünen ihre Ansätze zu einem wirklich mobilisierenden Wahlkampf ohne die Bremsspur einer vorauseilend auf Kompromiss gebürsteten Programmatik verfolgt hätten?
Das ist vielleicht das Irritierendste an diesem Wahlkampf inmitten einer krisenhaften Welt: Das Niveau der Auseinandersetzungen bleibt weit hinter dem Handlungsdruck zurück. Quer durch politisch-ideologische Trennlinien wird eine Stimmung der Unlust an Veränderung erst konstatiert (sicher nur zum Teil mit Recht) und dann durch den Verzicht auf radikalere Konzepte und alternative Machtoptionen auch noch verstärkt. Wer spürt schon Lust an Veränderung, wenn ihm oder ihr dauernd versichert wird, so viel Bewegung müsse nun auch wieder nicht sein?
Kein Kommunismus in Sicht
Dass Politik mehr bedeutet als vermeintlichen oder wirklichen Stimmungen hinterherzulaufen; dass sie bedeuten müsste, als richtig erkannte Positionen auch auf Risiko zu vertreten – SPD und Grüne haben offenbar die Zeiten vergessen, in denen sie sich davon einst leiten ließen.
Vielleicht steckt genau hierin der Grund dafür, dass die SPD und auch die Grünen mit ihren Forderungen nach „Bekenntnissen“ eine Mauer gegen die Linke aufbauen. Sie haben vielleicht sogar Anlass zu der Befürchtung, dass die jetzt angelaufenen Rote-Socken-Kampagnen wirken. Nicht deshalb, weil dieser Antikommunismus, dem ja weit und breit kein Kommunismus gegenübersteht, die alten Reflexe aus dem Kalten Krieg wecken könnte. Auch nicht, weil etwa in Sachen NATO und Militär kein Kompromiss mit der Linken möglich wäre – das wäre er mindestens ebenso gut wie mit Union oder FDP in der Steuerpolitik.
Nein, die „Linksrutsch“-Propaganda wirkt womöglich deshalb, weil sie ganz reale Ängste vor Veränderungen im Alltagsleben anspricht. Und das wiederum könnte daran liegen, dass das Reformlager, soweit vorhanden, diesen Ängsten nicht offensiv genug mit einer positiven Vision von einem klimagerechten, stressärmeren, sozial abgesicherten und gerechteren Leben begegnet ist. Das hat erst den Raum für diejenigen geöffnet, die die Angst vor Veränderung nutzen, um dem hergebrachten Wachstums-Kapitalismus zwar klimafreundlicheres Handeln ans Herz zu legen (Christian Lindner, FDP: „Erfinden statt verbieten“), aber die notwendigen radikalen Veränderungen zu hintertreiben.
Sicher: Es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass nach der Wahl eine Dynamik entsteht, die doch noch zu einer rot-grün-roten Regierungskoalition im Bund führt. Noch ist auch Rot-Grün im Bereich des Möglichen. Mindestens ebenso wenig ausgeschlossen sind aber Bündnisse mit eingebauter Reformbremse, von der Ampel über Jamaika bis hin zum nächsten Stillstands-Bündnis von SPD und CDU/CSU, diesmal vielleicht unter Führung des Merkel-Imitators Olaf Scholz. Manche im linken Lager werden sich dann fragen, warum sie nicht früher mit dem Träumen angefangen haben.
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